Jede Woche stelle ich hier (ab Mitte März 09) ein Buch vor. Alle Autoren haben ein gemeinsames Thema. Sie machen sich - jeder auf seine Weise - Gedanken über die Zukunft. In diesem Blog werden die nach subjektiven Kriterien ausgewählten Monographien vorgestellt und in einen größeren Zusammenhang eingeordnet. zweitwissen will neugierig machen und zum Lesen eines kompletten Buches anregen, anstatt sich nur Informationshäppchen im Netz "anzulesen".

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Motto: "Umwege erhöhen die Ortskenntnisse"

Samstag, 9. Mai 2009

Wohin mit dem Menschenmüll?


Gewicht: 345 Gramm, Maße: 321 x 210 x 34 mm

Was passiert, wenn eines Tages mehr als die Hälfte der Bundesbürger arbeitslos sind? Wenn Arbeitsvermittler wie früher Außenminister mit dem Hubschrauber eingeflogen werden? Der preisgekrönte Roman von Joachim Zelter ist ein Muss für alle, die sich mit kritischen Gesellschaftsdiagnosen interessieren.

Seit Jahren warnen Soziologen wie Horst Bude, der 1998 in einem Artikel den Begriff "Die Überflüssigen" geprägt hat, vor der Umsortierung der Menschen in dieser Gesellschaft. Die Peripherie wächst, die Mitte schrumpft und klammert sich in ihrer sozialen Abstiegsangst an die letzten Nischen "in der nackten Felswand der zerklüfteten Klassengesellschaft" (Barbara Ehrenreich in "Working poor"). Was passiert, wenn plötzlich Millionen Menschen nicht mehr dazu gehören (im soziologischen Sprachgebrauch: "exkludiert" werden) - das habe ich selbst in meinen Buch "Fast ganz unten" beschrieben. In der Zeit des Schreibens hat mich der Gedanke daran, dass die Gesellschaft gerade grundlegend "umsortiert" wird (ohne das wir das mitbekommen) verfolgt. Wie das aussehen kann, schildert Zelter in seinem ausgezeichneten Buch. Ein Roman mit soziologischem Tiefgang oder eine soziologische Studie in Romanform - ich kann mich nicht entscheiden.

In einer nicht allzu fernen Zukunft ist das "Ende der Arbeit" (so 1995 der Titel eines berühmten Buches von J. Rifkin) gekommen. Es gibt fast mehr Arbeitslose als Erwerbstätige, Erwerbsarbeit, über die wir uns in dieser Zukunft (leider immer noch) definieren, ist ein knappes Gut, weil Prozesse der Automatisierung, Digitalisierung und Rationalisierung außer den wenigen, gebildeten "Symbolanalytikern" alle Menschen freisetzen, d.h. überflüssig machen: "Während der gesamten Menschheitsgeschichte war Arbeit a priori gegeben. Sie hat die Menschen Jahrtausende lang begleitet, belagert, verfolgt. In den letzten Jahren hat sich dies verändert. Die Arbeit verfolgt nicht mehr. Wir verfolgen sie. Wir fahnden nach ihr. Wie nach einem kostbaren Rohstoff. Oder wie Jäger nach Beute. Die eigentliche Arbeit ist heute nicht mehr die Arbeit selbst, sondern die Suche nach Arbeit".

Die vielen Arbeitslosen dieser arbeitslosen Gesellschaft haben nur noch eine letzte Chance - dann, wenn sie von ihrem Berater dazu "auserwählt" werden, die "Schule der Arbeitslosen" zu besuchen. Das ist eine Art Kaserne in einem alten Fabrikgebäude, mit Trainer, die eher Feldwebeln gleichen, harten Regeln, Drill und keinem Ausweg. In der Soziologie nennt man so etwas eine "totale Institution", eine Kaserne, ein Gefängnis etwa, oder ein Kloster. Dort verliert jede/r die bürgerlichen und die persönlichen Rechte.

Das Leben der im Roman knapp und präzise beschriebenen Institution gleicht einer Mischung aus Kaserne, Gefängnis und Kloster. Es gibt einen Dress Code und ein ausgeklügelten Belohnungssystem (unterschiedliche Coins für den Kaffeeautomaten). Und es gibt das Training, das dazu führen soll, dass die Arbeitslosen sich wieder unterscheiden. Womit wir bei einem zentralen soziologischen Thema des Buches wären.

Der Soziologe Ulrich Beck stellt in seinem Buch „Eigenes Leben“ fest, wie zentral eine Biografie heute ist: „Das Entscheidende ist [...], dass die modernen Vorgaben die Selbstorganisation des Lebenslaufs und die Selbstthematisierung der Biografie erzwingen.“ Wenn der Lebenslauf die Verkettung tatsächlicher Ereignisse des Lebens einer Person darstellt, dann ist die Biografie die Erzählform dieser Ereignisse.

In der Schule der Arbeitslosen erhalten die Exkludierten ein ausgiebiges Motivations- und Bewergungstraining. Sie müssen u.a. das Fach „Biografisches Arbeiten“ belegen und fiktive Bewerbungsgespräche mit Trainern führen. Das Bewerbungsgespräch entpuppt sich als neue Kunstform, die Bewerbungsgefühle schwanken zwischen Heldenmut und Demütigung.

Eine Biografie ist nun nicht nur im soziologischen, sondern auch im ganz pragmatischen Sinne ein Konstrukt. Gefordert werden kombinatorische Phantasie, biografische Transaktionen, promiskuitive Lebensläufe, Autofiktionalität, Lebensläufe als eine Form angewandter Literatur, epische Autobahnen, fiktional konstruierte Handlungsgefüge, kombinatorische Eigenschaftsgebilde, ein Kohärenzsystem stimmiger Merkmale und Bedeutungsträger, einige (auf Regieanweisungsknappheit) reduzierte Kommentare. Es geht nicht mehr um Wahrheit, sondern lediglich um die Folgerichtigkeit biografischer Plotstrukturen und die biografische Attraktivität das eigenen Lebens.

Der Lebenslauf ist dabei nicht mehr als ein Steinbruch, der Rohstoffe für eigendynamische Biografien hergibt. Es geht nicht um Realitätssinn, sondern um Möglichkeitssinn. Dazu müssen zuerst einmal Lücken aufgedeckt werden: „Ausbildungs- und Berufslücken, […] extracurriculare Lücken, Hobby- und Freizeitlücken, Interessenlücken, Sprachlücken, Auslandslücken, Reiselücken, Computerlücken, Persönlichkeitslücken, emotionale Lücken [...]“. Und die knallharte Devise lautet: „Das Nichts eines Lebens ist jederzeit entschuldbar, jedoch nur im wirklichen Leben, nicht in einem Lebenslauf.“ Das eigene Leben wird damit zum autobiografisch optimierter Leben. Der Erfolg dieser Suchbewegung wird in der „Schule der Arbeitslosen“ mit dem „Certificate of Professional Application“ attestiert.

Mit diesem Konstrukt sollen sich dann die Menschen mit Design-Biografie von der Looser-Class abgrenzen, die aus verängstigten Menschen mit lebenslangen Kontaktschwierigkeiten und Bindungsängsten sowie negativen Kindheitserinnerungen besteht. Menschen, die latent depressiv sind und ein geringes Selbst- und Weltvertrauen an den Tag legen und – das schlimmste von allem – nur reduziert belastbar sind. Eine Biogafie, die das nicht leistet, wird so beschrieben: „Es fehlt die Spannung. Es fehlen die großen biografischen Zäsuren. Es fehlen die Aussichtspunkte, Tiefpunkte oder Wendepunkte. Und natürlich Höhepunkte. Zu wenig Menschliches. Keine wirkliche Geschichte. Zu viel Maß und Mittelmaß […]. Es fehlen die Extreme. Es fehlen die Bedeutungen. […] Wer will so etwas lesen? Geschweige denn einstellen?“

Beitrag zur Zukunft der Menschheit: So könnte Sie aussehen, die Zukunft! Null Menschenwürde, totale Verfügungsmasse, Endstation, Müll. Tun wir alles, um es zu vermeiden.

Joachim Zelter: Schule der Arbeitslosen, 2006. Klöpfer & Meyer. Tübingen. ISBN 3-937667-71-7

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