Jede Woche stelle ich hier (ab Mitte März 09) ein Buch vor. Alle Autoren haben ein gemeinsames Thema. Sie machen sich - jeder auf seine Weise - Gedanken über die Zukunft. In diesem Blog werden die nach subjektiven Kriterien ausgewählten Monographien vorgestellt und in einen größeren Zusammenhang eingeordnet. zweitwissen will neugierig machen und zum Lesen eines kompletten Buches anregen, anstatt sich nur Informationshäppchen im Netz "anzulesen".

Der Autor dieser Texte...

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Motto: "Umwege erhöhen die Ortskenntnisse"

Mittwoch, 1. Juli 2009

Lernen von den Simpsons


Gewicht: 350 Gramm, Maße: 290 x 157 x 31 mm

Auf dieses Buch habe ich lange gewartet. Zwar habe ich es für die Bibliothek bestellt, doch leider hat sich sich gleich irgend jemand ausgeliehen. Kein Wunder! Es lohnt sich. Man muss eben auch gönnen können.

Jeder kennt die Simpsons, kein Zweifel. Aber kann man mit oder über die Simpsons philosophieren? Man kann! Die Simpsons existieren schon seit 20 Jahren. In dieser Zeit wurden in der Sendung schon alle menschlichen Probleme, manchmal auch Potenziale dargestellt. "An Marges Küchentisch", so der treffende Text auf dem Buchrücken, "und in den Straßen von Springfield treten die Grundfragen der Menschheit offen zu Tage". 

Und wer ist für die Grundfragen der Menschheit verantwortlich? Es waren und es sind noch immer, die Philosophen. Was passiert, wenn in einer US-amerikanischen Uni, in der das Lehr- und Arbeitsklima sich wohl deutlich von den hiesigen Hochschulen unterscheiden muss, 11 witzige Philosophen in der Kaffeeküche zusammentun und über die TV-Serie vom Vortag sprechen, das zeigt dieses Buch. Einige waren schon am Seinsfeld-Buch beteiligt, nun also die Simpsons.

Mir war schon immer klar, dass die Serie das Potenzial hat, uns das Leben zu erklären. Ich erinnere mich an eine Episode (als ich noch einen Fernseher hatte). Homer fährt auf der Autobahn. An seinem Auto zieht er einen Anhänger, der voll mit allen möglichen Sachen beladen ist. Plötzlich löst sich der Anhänger - er war wohl nicht richtig arretiert. Dies verursacht eine fürchterliche Massenkarambolage auf dem Highway. Und was macht Homer? Er greift zum Rückspiegel, in dem er die Folgen seines Tuns betrachten kann, verdreht diesen um ein paar Grad und sieht dann - völlig surreal - ein friedlich grasendes Reh in einer paradisischen Auenlandschaft. Er gibt damit das Sinnbild ab für die uns alltäglich umgebende Realitätsverweigerung.

Eines der Kapitel ist natürlich auch Homer Simpson gewidmet. Geschrieben wurde es vom Assitenzprofessor für Philosophie Raja Halwani, der angibt, das seine größte Errungenschaft die Entdeckung einer weiteren Mahlzeit zwischen Frühstück und Brunch war. Derart mit Humor gewappnet vergleich Halwani Homer mit der Ethik von Aristoteles um sich der Frage anzunähern, ob Homer ein "guter" oder ein "schlechter" Mensch ist. Die Charaktertypen des Aristoteles kommen mir - aus meiner Lehrveranstaltung "Persönlichkeitsentwicklung" sehr bekannt vor. Das abschließende Urteil über Homer fällt dann überraschend milde aus, obwohl Homer ja jede Menge übler Eigenschaften und dunkler Leidenschaften hat. Seine "berauschende Lebenslust" steht den vielen großen und kleinen Verletzungen gegenüber, die Homer bei anderen verursacht.

Nein, die Texte sind nicht leicht zu lesen. Sie erfordern mehr Aufmerksamkeit als das Schauen einer Comicserie im Fernsehen. Aber in ihrer analytischen Schärfe sind sie - in Verbindung mit dem Wiedererkennungseffekt - brillant. Viele der unverzichtbaren Philosophen kommen zu Wort. Immer bezogen auf eine der Figuren der Simpsons-Serie: Bart und Nietzsche, Die Simpsons-Familie und Kant, Karl und Marx usf. Dazu viele Einsprengsel weiterer Philosophen. Einen bunteren und besseren Einführungskurs in die Philosophie kann es wohl kaum geben.

Beitrag zur  Zukunft der Menschheit: So macht Philosophie sogar Nerds Spaß. Mehr davon!

Wiiliam Irwin u.a. (Hrsg.): Die Simpsons und die Philosophie. Schlauer werden mit der berühmtesten Fernsehfamilie der Welt. 2008. 6. Auflage. Tropen: Berlin. ISBN 978-3-932170-97-3

Sonntag, 21. Juni 2009

Feinkost für Nomaden


Gewicht: 300 Gramm, Maße: 290 x 157 x 17 mm

Ich saß in einem Flieger über dem Atlantik und hatte aus irgendeinem Grund ein Reisebuch dabei. Vielleicht weil sich Reisebücher auf Reisen besonders gut lesen. Jedenfalls hatte ich gerade Goethes "Faust" hinter mir und brauchte etwas Aktuelleres. Von diesem Buch kam ich, in einem Wort, nicht wieder los.

Wolfgang Bücher ist ein Mann mit traurigem Blick und klaren Augen - so sieht es aus, wenn man das Foto auf dem Buchumschlag betrachtet. Er hat für einige bekannte Zeitschriften, Zeitungen und Magazine aus der ganzen Welt berichtet. Dabei hat er sich die wohl besten Geschichten aufgespart. Für ein Buch, das Reisen im asiatischen Raum beschreibt. 

Aber "Asiatische Absencen" ist kein gewöhnliches Reisebuch. Es ist nicht vergleichbar mit den Klassikern von Bruce Chatwin, einem zugebenermaßen recht bekannten Reiseschriftsteller. Fragen Sie bitte nie in Australien in der Nähe von Back O' Bourke nach diesem Mann. Er hat dort nicht nur gute Erinnerungen hinterlassen. Es ist auch Schmökerschinken, wie "Die glücklichen Inseln Ozeaniens" eines meiner Lieblingsautoren Paul Theroux, der mal Professor in Singapur war und dann mit dem Paddelboot durch die Südsee fuhr. Dabei hat er einen Stamm von Kannibalen-Nachfahren getroffen. Man erzählte ihm eine schöne Geschichte. Die Vorfahren hielten Schuhe für ein besonderes Körperteil. Leider waren sie nur schwer essbar. So wurden sie von Stamm zu Stamm weiter gegeben, immer wieder gekocht und schließlich unter einem Baum vergraben. Unglaublich: Theroux fand den Schuh auf seiner Reise.

Aber mit derart grobschlächtigen Dingen hält sich Bücher nicht auf. Seine Erzählungen sind Literatur im engeren Sinne. Feine Beobachtungen, Mikroskopierungen des Augenblicks. So berichtet er etwa, wie er in den USA eine Nacht mit einem Japaner gemeinsam in einem Hotelzimmer verbringen musste. Dieser schenkte ihm jeden Tag einen Gegenstand - in Japan war gerade der Monat der Geschenke. So entstand eine scheinbar sinnlose Reihe von Dingen: einen Apfel, eine Zigarette, ein Heftchen über Zen in englischer Sprache.Erst später viel dem Autor auf, dass diese durchaus Sinn ergaben: Apple/smoke/Zen.

Die Geschichten sind beim besten Willen keine Reiseerzählungen im üblichen Sinne, die nacherzählen, wann man wo war und wie man wieder wegkam. Die stark reduzierte Sprache Büchers, seine Beobachtungsgabe und seine schonungslose Ehrlichkeit, mit der er über seine subjektiven Innenzustände schreibt, machen das Buch zu dem besten Reisebuch, das ich je gelesen habe (und ich habe viele, sehr viele gelesen...). 

Sehr schön ist auch die letzte der leider nur sechs Geschichten: Der Autor reist zu einem Ort, der Shangri-La heißt, weil der dem Namen einfach nicht widerstehen kann. Das erinnerte mich an viele meiner eigenen Reisen, die ich nur unternommen habe, weil ich wissen wollte, ob ein Ort, den ich auf der Landkarte gefunden habe, tatsächlich existiert. Shangri-La ist einer der sagenumwobenen Orte in dieser Welt. Eine Fiktion, ein Sehnsuchtsort. Dort angekommen, muss Bücher feststellen, dass es ein einfaches Dorf ist, das aus PR-Gründen einfach umgetauft wurde. Vorbei mit dem Mythos. In einer Bar mit dem Namen "Sexy Yeti" erfährt der Reisende vom abgeklärten Barkeeper die Wahrheit: "Eine Wahnsinnsidee, das müssen Sie zugeben oder". Trotzdem  schafft es Bücher irgendwie, sich in eine Schamanin zu verlieben. Die elementaren Regeln des Lebens gelten wohl unter jeder Bedingungen und auch in Tibet.

Die anderen Erzählungen sind nicht minder lesenswert. So berichtet der Autor, wie er krank in Indien in einem verlassenen Krankenhaus eine Tropenkrankheit übersteht und tagelang die Decke anstarrt, oder wie er mit einem gigantischen Tanker über den Persischen Golf fährt und dort einen Matrosen trifft der nie mehr von Bord geht. Wer meint, das dies keine spannenden Geschichten sein können, der versteht nichts von guter Literatur. Dieses Buch ist Literatur, wie sie nur noch ganz, ganz selten entsteht.

Beitrag zur  Zukunft der Menschheit: In einem Wort: Hoffnung. Wenn es noch Menschen gibt, die derart klar sehen und schreiben können, dann gibt es auch ein Morgen.

Wolfgang Bücher: Asiatische Absencen. 2008. Rowohlt: Berlin. ISBN 978-3-87134-616-3

Stunde der Zitate


Maße: 170 x 150 x 20 mm; Gewicht: 260 Gramm 

Wer im Gedächtnis bleiben will, der muss Spuren hinterlassen. Es liegt im Trend der Zeit, dass viele Menschen mit erheblichen Aufwand selbst dafür sorgen, ausreichend Spuren zu hinterlassen. Spitzenreiter in dieser narzisstischen Disziplin ist Oliver W. Schwarzmann, dessen Buch ausschließlich aus Zitaten besteht.

In der indischen Tempelkunst galt die Devise: "Lasse alles Überflüssige weg und verstärke den Rest". In der Wissenschaft bleibt einem voluminösen Buch - sehr zum Leidwesen des Autors, der sich oft jahrelang Mühe gegeben hat - nicht viel mehr als ein Zitat. Was liegt also näher, mag sich Schwarzmann gedacht haben, als vom Buch alles wegzulassen, außer die Zitate, von denen man sich wünscht, dass sie Spuren im Gedächtnis der anderen bleiben.

So unglaublich es klingt, das Buch besteht tatsächlich nur aus Zitaten. Wer ahnt denn so etwas? Der Autor ist laut Selbstauskunft (nebst überdimensionalen Foto) ein ehemaliger Banker, der sich nun ökonomischen Zukunftsfragen widmet. Daraus hat er gleich ein 'business' gemacht, eine Firma und einen Verlag gegründet, der seine Bücher herausbringt. Ein anderer Verlag würde wohl kaum ein solches Buch drucken. Es erinnert mich sehr an ein Buch mit dem Titel "Alles was Männer an Frauen verstehen", das mir mein ehemaliger WG-Mitbewohner aus Frankreich einmal schenkte: Es hatte nur leere Seiten. Auch eine gute Geschäftsidee.

Schwarzmann bezeichnet sich gerne als "Vordenker" und so heißt auch seine Buchreihe. Er lässt sich über Redner-Agenturen für "lebendige" Vorträge buchen und hat zu allen möglichen und unmöglichen Themen Studien und Expertisen verfasst. In einem Interview sagt er auf die Frage, was denn Vordenker-Medien bzw. ein Vordenker seien: "Vordenker-Medien sind Publikationen, in denen der Vordenker - in diesem Fall ich - seine Visionen, Thesen, Trends, Erkenntnisse aufs Blatt Papier bringt". Das Interview gibt es übrigens auch als Videocast

Selten hat jemand so unverfroren anderen die eigene Denkfähigkeit abgesprochen und sich über sie gestellt. Die Griechen nannten das Hybris - Anmassung und Selbstüberschätzung. Woher nimmt dieser Mensch eigentlich die Frechheit, sich mit seinen lächerlichen "Themenexpeditionen" zu Globalisierung, Demographie, Mobilität und Neuen Medien derart in den Mittelpunkt zu rücken? Wenn es stimmt, dass erst Aufmerksamkeit Informationen erzeugt, dass versucht dieser mehr als selbstverliebte "Zukunftspublizist" sich selbst in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken.

Was dann erscheint, sind nett zusammengewürfelte Zitate. Wobei Schwarzmann noch nicht einmal davor zurückschreckt, klassische Zitate "frei" wieder zu geben, d.h. zu verunstalten. Das Buch bietet also nicht die angekündigte "spannende wie zukunftsweisende Anregung über die Zukunft der Welt", sondern einen Einblick in die Psyche eines Schauspielers. Zu retten ist da nichts. Es gibt keine Erklärungen, keine Zusammenhänge. Da wurde kein Rest weggelassen, weil keiner existiert. Pure Oberflächlichkeit wird als Perspektive ausgegeben. 

Zwar sind einige der  Zitate ganz nett. Aber ein Buch, das ausschließlich aus Zitaten besteht, gehört zu einem anderen publizistischen Format: der Aphorismensammlung. In der Tat sind die wenigen Zeilen auf viel weißem Hintergrund nicht mehr als Gedankensplitter eines Denkens, dass mehr um sich selbst kreist als an wirklichen Lösungen interessiert zu sein. Jedem indischen Baumeister würde bei diesem Stil einfach nur schlecht werden.

Beitrag für die Zukunft der Menschheit: Keiner. Die einzige Spur, die das Buch hinterlassen sollte, ist Altpapier.

Oliver Schwarzmann: Über die Zukunft der Welt. Eine Perspektiven-Expedition, 2008. Bley und Schwarzmann, Waiblingen. ISDN 978-3-933452-70-2

Sonntag, 14. Juni 2009

Manchmal ist Schweigen mehr

Gewicht: 170 Gramm, Maße: 150 x 105 x 10 mm

'Bullshit' ist kein schönes Wort, aber  das hält viele Menschen nicht davon ab, genau jenen verbalen Müll zu produzieren, den man im amerikanischen Sprachraum locker mit 'Bullshit' bezeichnet. Ein winziges philosophisches Juwel klärt auf und tröstet all jene, die sich um eine klare Sprache bemühen.

Beginnen wir mit der Person. Der Autor des winzigen Bändchens, das im Original den schöneren Titel "On Bullshit" trägt, heißt tatsächlich so, wie es auf dem Buchcover verkündet wird. Frankfurt ist ein einigermaßen bekannter amerikanischer Philosoph, schon recht alt und daher vielleicht auch weise und lehrte an der Princeton University. 

Ich bin eines Tages in der ZEIT über eine Besprechung dieses Buches gestolpert, sonst hätte ich es in jedem Buchladen einfach übersehen. Da ich auch versuche in meiner Lehrveranstaltung "Wissenschaftliches Arbeiten und Schreiben" ein Bewusstsein dafür zu vermitteln, was klare, schöne und verständliche Sprache ist, kam mir dieses Buch gerade recht. Es ist meine Legitimation, wenn ich von "Bullshit Qualifications" rede - solche Eigenschaften, die man als Verfasser wissenschaftlicher Texte besser nicht hat (oder auf sie verzichtet). 

Eigentlich ist das Buch nicht sehr leicht verdaulich, weil es einige Vertrautheit mit philosophischen Ansätzen voraussetzt. Es beginnt mit einem Paukenschlag und einer Provokation: "Zu den auffälligsten Merkmalen unserer Kultur gehört die Tatsache, dass es so viel Bullshit gibt". Den Rest des Buches versucht Frankfurt zu (er-)klären, was Bullshit ist. Wie man ihn vermeidet sagt er nicht - dafür sollte man dann zu mir in die Veranstaltung kommen. Ich will ja auch noch etwas zu tun haben.

Eine ethymologische Klärung der Herkunft des Wortes Bullshit zeigt die Nähe zum Gewäsch, zum Humbug, zur Phrasendrescherei usf. Großen Wert legt Frankfurt darauf, den Unterschied zur Lüge heraus zu arbeiten. Trotz seines geringen Umfangs ist das Buch eine Fundgrube an Anektoden, die verdeutlichen, wie einfach und gleichermaßen selbstverständlich es in allen gesellschaftlichen Bereichen geworden ist, zu "bullshiten" (to bullshit). Besonders erwähnt Frankfurt hierbei die Bereiche Public Relations und die Politik. 

Bleibt die Frage zu klären, warum es in dieser Welt so viel Bullshit gibt. Erstens, so Frankfurt, weil der Umfang der Kommunikation insgesamt angestiegen sei - und damit auch derjenige Anteil, der eben nicht viel mehr als hohle Phrasendrescherei ist. Zweitens aber, weil wir ein Ideal verloren haben, das Ideal der Aufrichtigkeit. Immer häufiger werden Menschen fast schon mit Gewalt dazu gedrängt, Bullshit zu produzieren - auch Wissenschaftler: "Bullshit ist immer dann unvermeidbar, wenn die Umstände Menschen dazu zwingen, über Dinge zu reden, von denen sie nichts verstehen. Die Produktion von Bullshit wird also dann angeregt, wenn ein Mensch in die Lage gerät oder gar verpflichtet ist, über ein Thema zu sprechen, das seinen Wissensstand hinsichtlich der für das Thema relevanten Tatsachen übersteigt." Nur wenige Menschen schaffen es, in diesen Sitautionen zu schweigen.

Beitrag zur  Zukunft der Menschheit: Frankfurt zeigt, dass alles Bullshit werden kann, sogar Aufrichtigkeit. Schweigen kann heilende Kräfte entfalten.

Harry G. Frankfurt: Bullshit. 2006. Frankfurt a.M. ISBN 3-518-58450-2

Sonntag, 7. Juni 2009

Buch über den Bauch


Gewicht. 450 Gramm, Maße 220 x 170 x 30 mm

Trotz der bitteren Wahrheit, die der Titel dieses Buches verkündet, sollten Sie es lesen! Bittere Pillen soll man schlucken, nicht kauen. Im Übertragenen Sinne heißt das: Lesen klärt zwar auf, ändern müssen Sie Ihr Leben aber dennoch nicht.

Der Autor hält uns Lesern den Spiegel vor und "entzaubert" (wie der berühmte Soziologe Max Weber das einst genannt hat), stellvertretende gleich einige Wirklichkeitsbereiche für uns. Zu viel will ich nicht verraten, nur so viel, es geht auch um Sex, was wohl bei einem amerikanischen populärwissenschaftlichen Buch nicht zu vermeiden ist.

Wie so oft entpuppt sich ein Buch nur als ein Vertreter einer ganzen Gattung ähnlicher Bücher. In diesem Fall sind es die "Intuition ist wichtiger als Rationalitäts"-Bücher. Das Thema Intuiton hat das Thema "Emotionale Intelligenz" abgelöst. Vielleicht, weil im Zeitalter der Sentimentalitäten niemand so richtig weiß, was Emotionen sind. Immer mehr Wissenschaftler und Journalisten weisen, teils empirisch unterfüttert, teils spekulativ-esoterisch, darauf hin, dass der Wille nicht "frei" ist. 

Damit ist einerseits die sehr umfangreiche Diskussion in Folge des sog. Libetschen Experiments gemeint, bei dem Benjamin Libet nachwies, dass die bewusste Handlungsentscheidung dem ersten Handlungsimpuls des Gehirns um einige Bruchteile einer Sekunde vorauseilt (wenn Sie darüber mehr wissen sollen, dann besuchen Sie meine Veranstaltung "Persönlichkeitsentwicklung"). 

Damit sind andererseits aber auch die vielen Bücher gemeint, die sich der lange Zeit sträflich vernachlässigten Intuition widmen. Das beginnt mit recht undefinierbaren Formaten wie "Wie der Bauch dem Kopf beim Denken hilft" (Bas Kast) oder einem Semi-Klassiker wie "Intution: Die Weisheit der Gefühle" (Gerald Traufetter). Diese Bücher basieren mehr oder weniger auf dem Beststeller "Blink! Die Macht des Moments" von Malcolm Gladwell. Die Grundeinsicht: Wir wissen mehr, als wir ausdrücken können und wir nehmen mehr wahr, als uns bewusst ist. Handlungsentscheidungen werden oft an dem Wächter der Rationalität - dem Gehirn - vorbeigeschmuggelt, ob uns das bewusst ist oder nicht. Ein sehr seriösen Buch, dass den Preis für das beste Wissenschaftsbuch 2007 erhalten hat, stammt von Gerd Gigerenzer, einem Psychologieprofessor, der darin sehr anschaulich von seinen eigenen Experimenten berichtet ("Bauchentscheidungen: Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition"). 

Warum also braucht es noch ein Buch über den Bauch? Weil es darin um Themen geht, die wir alle selbst nachvollziehen können. Weil wir, d.h. die Art und Weise wie Menschen "normalerweise" (also empirisch gesprochen: am häufigsten) entscheiden, gnadenlos durchleuchtet wird.  Um das zu verdeutlichen, möchte ich kurz auf meine beiden Lieblingskapitel eingehen: "Vom ewigen Aufschieben" und "Ein Hintertürchen offen halten" - beides Prozesse, die viele von uns kennen, auch wenn sie es nicht zugeben.

Beginnen wir mit dem Aufschieben. Dort, wo wir es tun sollten, verzichten wir darauf. Ariely verdeutlicht das am kreditkartengetriebenen Konsum seiner Landsleute. Er weist sehr schön nach, dass seit den 1970er Jahren die Wandschränke in amerikanischen Häusern immer größer und schließlich begehbar wurden. Immer weniger können den Verlockungen des Konsums widerstehen - siehe Finanzkrise. Das ärgert den Autor sichtlich: Warum sind so viele Menschen außerstande, einen Teil ihres Gehalts auf die hohe Kante zu legen, obwohl sie wissen, dass sie es tun sollten? Warum sind sie nicht in der Lage, ihren Kaufwünschen zu widerstehen? Warum können sie nicht ein bisschen altmodische Selbstbeherrschung üben?"

Altmodisch erscheinen ebenfalls Termine für die Abgabe von Arbeiten während des Semesters. Es ist daher sowohl für Professoren als auch für Studierende von Interesse, mehr darüber zu erfahren, wie man verpatzte Termine vermeiden kann. In typisch amerikanisch-hemdsärmeliger Weise unternahm daher der Autor einen Selbstversuch und teilte ein Semester lang in drei Gruppen ein. Diese unterschieden sich in der Art der Vereinbarung über die Abgabe ihrer Semesteraufgaben. 

Die erste Gruppe durfte Ihre Aufgaben jederzeit abgeben. Sie musste allerdings selbst Termine benennen. Für jeden Tag, den sie dann eine Aufgabe später abgaben wurde ihnen ein Prozent von der erreichbaren Punktemenge abgezogen. Umgekehrt brachte es keinerlei Vorteile, die Aufgaben vor dem vereinbarten Termin abzugeben. Die zweite Gruppe hatte keinerlei feste Abgabetermine. Die Studierenden wurden lediglich gebeten, die Aufgaben am Ende des Semesters abzugeben. Der dritten Gruppe wurden schließlich "dikatorische" Terminvorgaben gemacht. Nun die Preisfrage: Bei welcher Gruppe hat die Terminabgabe am besten funktioniert?

Beitrag zur Zukunft der Menschheit: Es würde schon helfen, wenn wir uns entscheiden könnten - einerlei ob vernünftig oder unvernünftig. Das Buch zeigt, wie schwierig das Einfache sein kann.

Dan Ariely: Denken hilft zwar, nützt aber nichts, 2008.  Droemer: München. ISBN 978-3-426-27429-3

Dienstag, 19. Mai 2009

Die Zukunft wiegt schwer, so viel ist sicher

Gewicht: 2,3 kg; Maße: 240 x 175 x 50 mm

Das voluminöse Werk gleicht nicht nur äußerlich der Bibel. Es versteht sich auch als eine Art Bibel der Zukunftsforschung. Fast alles, worüber man berichten kann, wird darin angerissen - mehr aber auch nicht. Und der Autor ist so eine Art Jünger der Zukunftsforscher, einer der seriösen allerdings. Jemand, der "dem Volk auf's Maul schaut und der Regierung auf die Finger klopft". Nur zu!

Wer sich einmal gründlich über die Zukunft informieren möchte, der kommt an Horst W. Opaschowski nicht vorbei. Der ehemalige Tourismusforscher hat sich zwischenzeitlich zum Trend- bzw. Zukunftsforscher gewandelt. Reichten die Vorgängerbücher "Deutschland 2010" und „Deutschland 2020“ nur bis an die unmittelbare Zukunft heran, so wagt der Autor nun mit „Deutschland 2030“ den großen Wurf. Vielleicht ist das aber auch nur eine gute, sich immer wieder selbst erneuernde Marketingstrategie?

Seine Studien lässt sich Opaschowski ausgerechnet von der „Stiftung für Zukunftsfragen“, einer Initiative von British American Tobacco finanzieren. Ein Lobbyverband der Zigarettenindustrie, der sich für die Zukunft interessiert? Warum nicht. Seit einigen prominenten Umweltkatastrophen treten ja auch bekannte Ölfirmen im Gewand der Nachhaltigkeitsforscher auf. Die größten Kontraste scheinen am wenigsten aufzufallen.

Es ist fast unmöglich, die Informationen des Buches in komprimierter Form wieder zu geben. Es ist schlicht ein Füllhorn und beschäftigt sich mit fast allen relevanten Bereichen des Wandels. Dem Wandel der Arbeits- und Erwerbswelt, dem Wandel der Konsumwelt, der Bildungswelt, der Medienwelt und vielen anderen mehr. Jedes Kapitel hat genau zehn Unterkapitel – so schön lässt sich die Welt bei Opaschowski gliedern. Ich schaffe das nie, auch wenn ich es versuche. 

Und seine Prognosen? Es sind weniger Prognosen als detaillierte, empirische fundierte Deskriptionen der Gegenwart. Die Empirie erledigt Opaschowski oftmals gleich selbst. Dies grenzt ihn aber zumindest von denjenigen Zukunftsforschern ab, die nicht viel mehr leisten, als rhetorische Nebelbomben zu zünden. Dennoch wird es auch bei Opaschowski manchmal kryptisch. 

Da ist dann die Rede von der „Angst vor der @-Bombe“, der „Generation @“ oder von der Formel „0,5 x 2 x 3“, was soviel bedeutet wie: „Die Hälfte der Mitarbeiter verdient doppelt so viel und muss dafür dreimal so viel leisten wie früher“. Nicht gerade schöne Zukunftsaussichten, glaubt man der „Arbeitsformel von morgen“. Noch schnell eine Formel: „E plus U gleich I“. was ist  nun damit gemeint? In der Sphäre der Kultur von morgen, so Opaschowski, wachsen die „Ernste Kultur“ und die „Unterhaltungskultur“ zu einer „Integrationskultur“ zusammen, einer Kultur mit Breitenwirkung. Da hätten wir ihn wieder, einen meiner Lieblingsausdrücke: die breite Masse.

Besonders instruktiv war für mich (als Autor eines Buches über ehrenamtliches Engagement im Bereich der Tafeln) das Kapitel über „Informelles Helfen“ und die Faszination der Freiwilligenarbeit. Er bringt sehr schön auf den Punkt, was ich an anderer Stelle als „demonstratives Helfen“ bezeichnet habe: „Beim Engagement geht es in erster Linie um biographische Anliegen, um die eigene Persönlichkeitsentwicklung, das Eigeninteresse und die Selbstentfaltung.“ 

Beitrag zur Zukunft der Menschheit: Jeder kann sich nun ein Bild über die Zukunft machen und sicher ist für jeden etwas dabei. Dies ist das Hauptverdienst des dicken Wälzers, der - nebenbei bemerkt - unzählige Internetrecherchen ersetzt.

Horst W. Opaschowski: Deutschland 2030. Wie wir in Zukunft leben werden. 2008. Gütersloher Verlagshaus: Gütersloh. ISBN 978-3-579-06991-3

Montag, 18. Mai 2009

Freude am Überleben in Zeiten der Krise

Gewicht: 600 Gramm; Maße: 210 x 127 x 46 mm

Zu jeder Zeit im Leben sollte man von guten Ratgebern umgeben sein. Zum Glück gibt es immer den einen oder anderen, der sich befähigt fühlt, uns mit guten Ratschlägen zu versorgen. Derart gerüstet, ist die Bewältigung der Krise doch nur ein Kinderspiel.

In meiner Kindheit gab es nur ein maßgebliches Ratgeberbuch. Es hieß "Geheime Tips von Donald Duck. Ein praktisches Handbuch für Jungen". Man sieht sofort, dass das Buch lange vor der Rechtschreibreform und lange vor Gendermainstreaming herausgekommen sein musste. Ich fand es vor ein paar Wochen zu Hause auf dem Dachboden. Ich weiß nicht mehr, wie alt ich war, aber ich hatte meine Größe eingetragen: 140 cm. In dem Buch konnte man alles über Geheimtinte, Drachenbau, Windstärken  und den Gordischen Knoten lernen. Später hielt ich mich dann an das "US Army Survival Handbook". Hier ging es um saftigere Themen: Überleben nach einem Flugzeugabsturz, Bestimmung der Himmelsrichtung mit der Uhr (habe ich ab und zu auf Reisen benötigt) oder Umgang mit Haien in tropischen Gewässern. 

Alle diese Bücher wirken wie eine Apothekerzeitschrift gegenüber einem Medizinlexikon. Nützlich, aber eben nicht umfassend. Der Österreicher Karl Leopold von Lichtenfels hat sich - kein Wunder bei dem Namen - zur Aufgabe gemacht, ein ergiebiges Lexikon zu schreiben, dass das gesamte Weltwissen über den Umgang mit Krisen und Katastrophen enthält. Da wir ja gerade in eine Krise geraten, ist es vielleicht nicht schlecht, sich mit der Lektüre dieses Buches auf den Ernstfall vorzubereiten. Der Markt boomt übrigens. Krisenbewältigungsliteratur macht Kasse. Titel wie "Selbstversorgung aus dem Garten: Wie man seinen Garten natürlich bestellt und gesunde Nahrung erntet" erinnern an den "Wholy Earth Cataloge" (ab 1968) von Stewart Brand, der als Vorläufer der heutigen Internet-Suchmaschinen gilt. Weitere Titel wie "Das große Buch der Überlebenstechniken. Das umfassende Nachschlagewerk für alle, die sich in Ausnahmesituationen rasch richtig verhalten und durchsetzen wollen" zeigen, das auch heute noch Bücher ohne anständiges Lektorat auf den Markt kommen aber gleichzeitig auch die Wichtigkeit von "Canned Decisions", auf etwa: Entscheidungsvorratshaltung. Piloten trainieren solche Entscheidungsroutinen, um dann im Ernstfall fast instinktiv reagieren zu können. 

Wie aber reagieren wir als Normalbürger auf eine Krise? Leopold von Lichtenfels studierte Astronomie, Physik, Theologie und Pädagogik in Wien und realisierte sein Buch mit Hilfe eines Stipendiums. Es war eine Art Abfallprodukt einer Analyse von 350 Prophezeiungen zum Untergang der Welt. Klar, dass man sich da Gedanken macht. Sein Beispiel zeigt aber auch, dass Wissenschaftsförderung manchmal sogar die Richtigen trifft. 

Das Buch soll eine Art "Arche Noah des Überlebens" sein. Das ist ein wenig hoch gegriffen. Dennoch gibt es viele interessante Hinweise zu entdecken. Nicht alles hat der Autor selbst überprüft. So bedauert er in seiner Einleitung ausdrücklich, dass er die vorhandenen Anleitungen zu Kannibalismus nicht selbst verifiziert hat - für einen Wissenschaftler ein hartes Los, die eigene Neugierde kleinlichen forschungsethischen Bedenken unterordnen zu müssen. 

Das Buch  ist klar und praxisorientiert strukturiert. Es beginnt mit einem Kapitel über "Katastrophenschutz für Anfänger" und listet dann alle bekannten Gefahren auf: Brände, Erdbeben, Flutkatastrophen, Vulkanausbrüche usf. Dazu kommen Ungemütlichkeiten wie Krieg, Luftalarm und Kernwaffeneinsätze. Anzeichen für einen Kernwaffeneinsatz sind, so der Autor, "sehr helle, plötzliche Lichter" sowie "donnerartiges Grollen". Dies gilt auch einige Discos, ist aber sicher richtig. Die Ratschläge, die er zum Überleben von atomaren Explosionen gibt erscheinen ein wenig hilflos. Hilfereicher ist schon die Liste mit Orten, an denen man eine höhere Überlebenschance hat oder die Liste an Orten, die man meiden sollte, weil sie in Prophezeiungen über den Weltuntergang erwähnt werden. Es gibt so viel zu entdecken, dass man sich als Leser fast schon ärgert, in einer derart behüteten Welt zu leben.

Beitrag zur Zukunft der Menschheit: In diesem Fall mehr als offensichtlich. Dieses Buch gehört als pdf-Version auf jedes Handy!

Karl Leopold von Lichtenfels: Lexikon des Überlebens. Handbuch für Krisenzeiten, 2005. Köln: Anaconda. ISBN 3-938484-26-8

Samstag, 9. Mai 2009

Wohin mit dem Menschenmüll?


Gewicht: 345 Gramm, Maße: 321 x 210 x 34 mm

Was passiert, wenn eines Tages mehr als die Hälfte der Bundesbürger arbeitslos sind? Wenn Arbeitsvermittler wie früher Außenminister mit dem Hubschrauber eingeflogen werden? Der preisgekrönte Roman von Joachim Zelter ist ein Muss für alle, die sich mit kritischen Gesellschaftsdiagnosen interessieren.

Seit Jahren warnen Soziologen wie Horst Bude, der 1998 in einem Artikel den Begriff "Die Überflüssigen" geprägt hat, vor der Umsortierung der Menschen in dieser Gesellschaft. Die Peripherie wächst, die Mitte schrumpft und klammert sich in ihrer sozialen Abstiegsangst an die letzten Nischen "in der nackten Felswand der zerklüfteten Klassengesellschaft" (Barbara Ehrenreich in "Working poor"). Was passiert, wenn plötzlich Millionen Menschen nicht mehr dazu gehören (im soziologischen Sprachgebrauch: "exkludiert" werden) - das habe ich selbst in meinen Buch "Fast ganz unten" beschrieben. In der Zeit des Schreibens hat mich der Gedanke daran, dass die Gesellschaft gerade grundlegend "umsortiert" wird (ohne das wir das mitbekommen) verfolgt. Wie das aussehen kann, schildert Zelter in seinem ausgezeichneten Buch. Ein Roman mit soziologischem Tiefgang oder eine soziologische Studie in Romanform - ich kann mich nicht entscheiden.

In einer nicht allzu fernen Zukunft ist das "Ende der Arbeit" (so 1995 der Titel eines berühmten Buches von J. Rifkin) gekommen. Es gibt fast mehr Arbeitslose als Erwerbstätige, Erwerbsarbeit, über die wir uns in dieser Zukunft (leider immer noch) definieren, ist ein knappes Gut, weil Prozesse der Automatisierung, Digitalisierung und Rationalisierung außer den wenigen, gebildeten "Symbolanalytikern" alle Menschen freisetzen, d.h. überflüssig machen: "Während der gesamten Menschheitsgeschichte war Arbeit a priori gegeben. Sie hat die Menschen Jahrtausende lang begleitet, belagert, verfolgt. In den letzten Jahren hat sich dies verändert. Die Arbeit verfolgt nicht mehr. Wir verfolgen sie. Wir fahnden nach ihr. Wie nach einem kostbaren Rohstoff. Oder wie Jäger nach Beute. Die eigentliche Arbeit ist heute nicht mehr die Arbeit selbst, sondern die Suche nach Arbeit".

Die vielen Arbeitslosen dieser arbeitslosen Gesellschaft haben nur noch eine letzte Chance - dann, wenn sie von ihrem Berater dazu "auserwählt" werden, die "Schule der Arbeitslosen" zu besuchen. Das ist eine Art Kaserne in einem alten Fabrikgebäude, mit Trainer, die eher Feldwebeln gleichen, harten Regeln, Drill und keinem Ausweg. In der Soziologie nennt man so etwas eine "totale Institution", eine Kaserne, ein Gefängnis etwa, oder ein Kloster. Dort verliert jede/r die bürgerlichen und die persönlichen Rechte.

Das Leben der im Roman knapp und präzise beschriebenen Institution gleicht einer Mischung aus Kaserne, Gefängnis und Kloster. Es gibt einen Dress Code und ein ausgeklügelten Belohnungssystem (unterschiedliche Coins für den Kaffeeautomaten). Und es gibt das Training, das dazu führen soll, dass die Arbeitslosen sich wieder unterscheiden. Womit wir bei einem zentralen soziologischen Thema des Buches wären.

Der Soziologe Ulrich Beck stellt in seinem Buch „Eigenes Leben“ fest, wie zentral eine Biografie heute ist: „Das Entscheidende ist [...], dass die modernen Vorgaben die Selbstorganisation des Lebenslaufs und die Selbstthematisierung der Biografie erzwingen.“ Wenn der Lebenslauf die Verkettung tatsächlicher Ereignisse des Lebens einer Person darstellt, dann ist die Biografie die Erzählform dieser Ereignisse.

In der Schule der Arbeitslosen erhalten die Exkludierten ein ausgiebiges Motivations- und Bewergungstraining. Sie müssen u.a. das Fach „Biografisches Arbeiten“ belegen und fiktive Bewerbungsgespräche mit Trainern führen. Das Bewerbungsgespräch entpuppt sich als neue Kunstform, die Bewerbungsgefühle schwanken zwischen Heldenmut und Demütigung.

Eine Biografie ist nun nicht nur im soziologischen, sondern auch im ganz pragmatischen Sinne ein Konstrukt. Gefordert werden kombinatorische Phantasie, biografische Transaktionen, promiskuitive Lebensläufe, Autofiktionalität, Lebensläufe als eine Form angewandter Literatur, epische Autobahnen, fiktional konstruierte Handlungsgefüge, kombinatorische Eigenschaftsgebilde, ein Kohärenzsystem stimmiger Merkmale und Bedeutungsträger, einige (auf Regieanweisungsknappheit) reduzierte Kommentare. Es geht nicht mehr um Wahrheit, sondern lediglich um die Folgerichtigkeit biografischer Plotstrukturen und die biografische Attraktivität das eigenen Lebens.

Der Lebenslauf ist dabei nicht mehr als ein Steinbruch, der Rohstoffe für eigendynamische Biografien hergibt. Es geht nicht um Realitätssinn, sondern um Möglichkeitssinn. Dazu müssen zuerst einmal Lücken aufgedeckt werden: „Ausbildungs- und Berufslücken, […] extracurriculare Lücken, Hobby- und Freizeitlücken, Interessenlücken, Sprachlücken, Auslandslücken, Reiselücken, Computerlücken, Persönlichkeitslücken, emotionale Lücken [...]“. Und die knallharte Devise lautet: „Das Nichts eines Lebens ist jederzeit entschuldbar, jedoch nur im wirklichen Leben, nicht in einem Lebenslauf.“ Das eigene Leben wird damit zum autobiografisch optimierter Leben. Der Erfolg dieser Suchbewegung wird in der „Schule der Arbeitslosen“ mit dem „Certificate of Professional Application“ attestiert.

Mit diesem Konstrukt sollen sich dann die Menschen mit Design-Biografie von der Looser-Class abgrenzen, die aus verängstigten Menschen mit lebenslangen Kontaktschwierigkeiten und Bindungsängsten sowie negativen Kindheitserinnerungen besteht. Menschen, die latent depressiv sind und ein geringes Selbst- und Weltvertrauen an den Tag legen und – das schlimmste von allem – nur reduziert belastbar sind. Eine Biogafie, die das nicht leistet, wird so beschrieben: „Es fehlt die Spannung. Es fehlen die großen biografischen Zäsuren. Es fehlen die Aussichtspunkte, Tiefpunkte oder Wendepunkte. Und natürlich Höhepunkte. Zu wenig Menschliches. Keine wirkliche Geschichte. Zu viel Maß und Mittelmaß […]. Es fehlen die Extreme. Es fehlen die Bedeutungen. […] Wer will so etwas lesen? Geschweige denn einstellen?“

Beitrag zur Zukunft der Menschheit: So könnte Sie aussehen, die Zukunft! Null Menschenwürde, totale Verfügungsmasse, Endstation, Müll. Tun wir alles, um es zu vermeiden.

Joachim Zelter: Schule der Arbeitslosen, 2006. Klöpfer & Meyer. Tübingen. ISBN 3-937667-71-7

Montag, 4. Mai 2009

Vermeiden Sie zu viel Zukunft!

Gewicht: 230 Gramm, Maße: 210 x 155 x 9 mmm

Nach eigenen Angaben ist das 2008 erschienene Buch „Zukunftsillusionen“ eine „Expertise“, die sich mit den Strategien der Trendforscher beschäftigt – die dabei nicht sehr gut wegkommen. Rust kreidet an, dass sich die Protagonisten dieses Milieus gegenseitig mit der Erfindung exotischer Begriffe überbieten, um damit Märkte, Zielgruppen, Tendenzen, Konsumorientierungen und soziale Wandlungsprozesse zu beschreiben.

Trotz Skurrilität haben diese Ideen Erfolg. Dies kann der seriöse Wissenschaftler nicht auf sich sitzen lassen – er holt zum Gegenschlag aus. Seinen Beitrag versteht Rust als methodologischen Opportunismus. Und ich kann ihn dabei gut verstehen. Wie auch schon Harry G. Frankfurt gezeigt hat, leben wir in einer Zeit, in der, mehr als jemals zuvor, Bullshit produziert wird. Die Trendforschung hat einen gewaltigen Anteil daran. Da hagelt es schon mal mit abwertenden Begriffen: „Wechselseitige Netzwerklegitimation“, „methodologische Scharlatanerie“, „Variationen oberflächlicher Ausdrucksaktivitäten“, „boulevardeske Forschung“ und eben: „Zukunftsillusionen“.

Prinzipien ernst zu nehmender Forschung kann man jedenfalls in den „Studien“ der Trendforscher lange suchen, so Rust. Ihnen geht es mehr um „Google-Publicity“ als um die reine Lehre. Vergleicht man die Internetpräsenz des durchaus renommierten „Sekretariats für Zukunftsforschung“ unter der Leitung des (echten) Professors Rolf Kreibich (dessen Publikationen ich in meinen Lehrveranstaltungen nutze) mit den Treffern zum „Zukunftsinstitut“ des umtriebigsten und umstrittensten Trendforschers Matthias Horx dann erhält man eine Quote von 600 zu 46.000. Echte Fakten versus Trendrhetorik.

Das Selbstbewusstsein der Trendforscher nimmt nach Rust schon fast groteske Formen an. Sie sehen sich als Vertreter einer Universalwissenschaft und machen auch vor biografischen Erfindungen nicht halt. Detailverliebt (wie sonst nur Umberto Eco) zeigt Rust wie sich z.B. Matthias Horx als „Professor“ ausweisen lässt, obwohl er nur einen Lehrauftrag innehat. Rust demaskiert die Faktengläubigkeit und den Tanz um das goldene Kalb der Prominenz, die sich mit „Science-Faction“ und Biografieveredelung beschäftigt. Die Biografie, so Rust, sei das Ergebnis eines „konfabulatorischen  Konstruktivismus“ (139) bei dem einige empirische Grunddaten einfach uminterpretiert werden. Und prompt liefert der Autor gleich eine Homologie zwischen Biografiekonstruktion und dem Arbeitsprinzip der Trendforschung.

Auch am Beispiel des (weltberühmten) John Naisbitt, der sich gerne als Berater von Präsident Johnson (und ähnlichem mehr) ausgibt, lässt sich dieses  Muster studieren. Ein paar Fakten stimmen, der Rest ist eben ein Trend, eine (autobiografische) marketingtechnische Aktion, die sich als möglichst selbstwertdienlich erweisen soll – und dies oft genug auch tut.

Dahinter steckt mehr als nur menschliche Eitelkeit und der Wunsch, sich als Wissenschaftler dazustellen um den eigenen Trendreports mehr Legitimität zu verleihen. Es ist auch eine Kritik an der Leichtgläubigkeit im Internetzeitalter, in dem mal hier, mal da abgeschrieben und ohne Gegenrecherche übernommen wird. Gerade die Bereitschaft, vorgefertigte, wohlklingende biografische Elemente zu übernehmen, ist im Zuge der allgemeinen Verbequemlichung gestiegen. Gedient ist damit beiden Seiten: „Die Veredelung der Rolle von Trendforschern vollzieht sich also in einem Wechselspiel des Kundenbedürfnisses nach Glanz und Titeln und der Bereitschaft des Anbieters, diesen Glanz und die Titel anzunehmen“ (139).

Von den vielen Ausführungen zur Erzeugung von Illusionen mag an dieser Stelle der Bericht über Dr. Fox und die Nonsens-Wissenschaft genügen. Es zeigt das Problem, um das sich im Buch – ordentlich recherchiert und kurzweilig vorgetragen – alles dreht: Der Schein siegt oftmals über das Sein, ein uralter Topos also, der von Horx & Co. reaktiviert wird.

1970 versammelte man wissenschaftliche Experten zu einem Vortrag mit dem Titel „Anwendung der mathematischen Spieltheorie in der Ausbildung von Ärzten“. Was die Zuhörer nicht wussten: Der Vortragende, der sich als Dr. Fox ausgab, war gar kein Wissenschaftler, sondern ein Schauspieler. Der Vortrag war lediglich ein Experiment, die Zuhörer darin die (unfreiwilligen) Probanden. Der Schauspieler hatte von einem Psychologenteam die Aufgabe erhalten, auf der Basis eines Fachartikels einen Vortrag zu entwickeln, der ausschließlich aus unklarem Gerede, erfundenen Wörtern und widersprüchlichen Feststellungen bestand. Dazu viel Humor und sinnlose Verweise zu andern Artikeln. Die Zuhörer waren begeistert und gaben anschließend an, dass das Material gut geordnet gewesen sei, die Beispiele verständlich und der Vortrag ihr Denken angeregt hätte. Das größte Problem bestand bei dem Experiment darin, den Schauspieler davon abzuhalten, doch etwas Sinnvolles zu sagen.

Allein mit seinem Stil hatte der Schauspieler Interesse geweckt. Die Psychologen waren vom Ergebnis ihrer Studie so beeindruckt und überzeugt, dass sie vorschlugen, die Motivation von Studierenden dadurch zu steigern, dass nicht mehr Professoren Vorlesungen halten, sondern Schauspieler dafür zu trainieren.

Beitrag zur Zukunft der Menschheit: Wer so leichtgläubig ist, hat es auch nicht besser verdient. Vielleicht ist das Dr. Fox-Experiment aber auch die beste Erfindung seit es e-learning gibt?

Holger Rust: Zukunftsillusionen. Kritik der Trendforschung. 2008. VS-Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden. ISBN 978-3-531-15659-0. 

Sonntag, 26. April 2009

Scheidung vom Zeitgeist


Gewicht: 250 Gramm; Maße: 210 x 145 x 15 mm

Der Ruf nach genauen Prognosen durch die Wissenschaft, die möglichst viel „Planungssicherheit“ verschaffen, ist unter der Bedingung erhöhter Umfeldturbulenzen heute lauter denn je. Trotz aller Forderungen besteht die Aufgabe der Wissenschaften – vor allem der Sozialwissenschaften – nicht im Wegdefinieren von Unsicherheit, sondern allenfalls in der Quantifizierung von Unsicherheitsbandbreiten. 

Die Beiträge des Sammelbandes „Gegenwärtige Zukünfte“ kreisen um die zentrale Erkenntnis, dass sich sozialwissenschaftliche Zukunftsforschung radikal von Trendforschung unterscheidet. Zwischen den kleinräumigen explorativ-interpretativen Fallstudien der qualitativen Sozialforschung und den "unweigerlich großflächigen und nicht selten grobschlächtigen Gegenwarts- und Zukunftsbildern", die von der Trendforschung produziert werden, so die beiden Herausgeber, besteht eine gewisse Kluft.

Und dies hat mit dem Selbstverständnis der Soziologen zu tun: Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive besteht der Sinn von Prognosen nicht darin, zu erklären, was ist, sondern zu verstehen, was wir tun. Nur wer verstehen will, kann eine Vorstellung davon entwickeln, was etwas Bestimmtes bedeutet oder bedeuten könnte. Daraus folgt für Hitzler & Pfadenhauer, dass sozialwissenschaftliche Prognostik, "unsere gesellschaftlichen Wirklichkeitskonstruktionen zu re-konstruieren hat, um das uns je Mögliche zu konstruieren." Oder mit Jo Reichertz gesprochen: Sozialwissenschaftliche Zeit- und Gesellschaftdiagnosen - das ist der Versuch aus schwachen Spuren starke Thesen zu entwickeln.

Soziologen liefern also (im je besten Fall) "unterscheidungsunterstützende Informationen" in der Form (qualitativer) Ethnografien der Gegenwart. Und das ist ein wenig mehr, als die Arbeit von Trendscouts, die entweder die "Diffusionsträchtigkeit" oder das "Outhipping-Potenzial" sozialer Phänomene zu erkennen trachten. In unserer Zeit geht es immer mehr darum, in Denkfabriken kontrollierte und säkulare Visionen herzustellen, deren Verwirklichung nicht mehr von einer transzendenten Agency abhängen, sondern allein von der Handlungsbereitschaft der betroffenen sozialen Akteure. Ganz anders sieht Zukunftsdeutung im Alltag aus.

Dort sind wir alle – wie Hubert Knoblauch & Bernd Schnettler in einem zentralen Beitrag dieses Bandes zeigen, Zukunftsforschende. Unser eigenes Leben ist voll von Akten praktischer Utopie und vorauseilender Imagination. Man könnte durchaus von einer Zielbestimmungs- und Steuerungsfunktion dieser phantasierten Vorentwürfe sprechen, die integraler Bestandteil unseres Alltags sind. Dauernd beschäftigen wir uns mit dem Horizont offener Möglichkeiten – nichts anderes ist Zukunft aus sozial-phänomenologischer Sicht.

Die Palette der Beispiele in diesem Sammelband ist breit. Sie reicht von der eben skizzierten Zukunftsdeutung im Alltag, über eine sozialwissenschaftliche Betrachtung von Managementtheorien (Liebl), die Diagnostik der Wiederholungsgefahr von Straftätern (Feltes), der Diagnosefähigkeit von Ärzten (mit sehr instruktiven Dialogen) (Vogd), dem Verhältnis von Forschen und Wetten (Behrend), einer wunderbaren Darstellung verschiedener Prognosemethoden am Beispiel des Problems, eines Erstkontaktes mit Außerirdischen (Schetsche), bis zur Kritik an den Methoden der Trendforscher (Pfadenhauer) und der Beschreibung von Möglichkeitsräumen der Existenz am Übergang in eine andere Moderne (Hitzler).

Aufgrund dieses großen Spektrums lernt der Leser auch, was gute Soziologie ausmacht: Der Verzicht auf große Würfe. „Wer die ‚Schau’ wünscht, gehe ins Lichtspiel“ – so schon der Gründervater der Soziologie, Max Weber. „Wer von der Soziologie Visionen erwarte, der gehe ins Kino“, eine Abwandlung des Zitats in Ehren vom französischen Großmeister Pierre Bourdieu. Soziologie ist, wie es der Konstanzer Soziologe Hans-Georg Soeffner formuliert hat, "primär rückwärtgewandte Prophetie - die Rekonstruktion der gesellschaftlichen Konstruktionen und Konstruktionsbedingungen von Wirklichkeit" Gute Soziologe hält sich aus dem Geschäft mit den Hypes heraus. Ansonsten besteht die Gefahr, vor der ebenfalls Soeffner gewarnt hat: „Wer den Zeitgeist heiratet, ist schnell verwitwet.“

Beitrag zur Zukunft der Menschheit: Ein tiefgreifendes Verständnis über die sozialen Konstruktionsbedingungen von Zukunftsvorstellungen.

Ronald Hitzler & Michaela Pfadenhauer (Hrsg.): Gegenwärtige Zukünfte. Interpretative Beiträge zur sozialwissenschaftlichen Diagnose und Prognose. 2005. Vs-Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden. ISBN 3-531-14582-7. Inhaltsangabe zum Buch hier


 


Sonntag, 19. April 2009

Ich nenne es Hype

Gewicht: 480 Gramm; Maße: 210 x 135 x 30 mm

Was haben Furtwangen, Berlin und New York gemeinsam? Nichts? Doch! Es handelt sich jedes Mal um Aufenthaltsorte der "Digitalen Bohème", einer neuen gesellschaftlichen Klasse. Zumindest, wenn man Holm Friebe und Sascha Lobo glaubt. 

Man könnte die Geschichte wie ein Märchen erzählen: Es war einmal ein kleine Gruppe von Menschen, die hatten nicht viel außer ihrem Grips und ihrer Kreativität. Oscar Wilde war zwar keiner von Ihnen, könnte aber der Ideengeber für das Motto der klassischen Bohème in Paris oder London gewesen sein. Als er nach Amerika einreiste, gab er am Zoll bekannt: "I have nothing to declare, but my genious". Diese genialen Menschen trafen sich in Cafés und versuchten Arbeit, Kunst und Leben zu einem Konzept zu verbinden. Leider gelang dies nur wenigen, aber wir schätzen heute ihre Bilder und Bücher. Diese Menschen und ihre alternative, unabhängige Lebensform haben die Kultur des Westens stark geprägt, obwohl fast alle nicht so lebten wie sie: Die meisten Menschen aber blieben Konformisten, immer auf der Suche nach Absicherung und guten Zinsen für ihr Sparbuch. Die Bohème aber träumte von mehr: "Es geht (...) darum, nicht nur so zu leben, wie man will, sondern so zu arbeiten, wie man leben will, und dabei keine Kompromisse einzugehen und keinen Aufschub zu dulden."

In dem inzwischen recht bekannten Buch von Friebe und Lobo wird der lange Weg von der klassischen Bohème zur digitalen Bohème nachgezeichnet. Die neue Bohème ist (wie die alte) meist in Großstädten beheimatet, die Chefredakteurin des Berliner Stadtmagazin Zitty mit dem echten (!?) Namen Mercedes Bunz hat diese Gruppe einmal "Urbane Penner" genannt. Eine Ausnahme ist sicher Furtwangen. Es sind die IT- und Webspezialisten, die vernetzt an Projekten arbeiten, deren Leben selbst ein einziges Projekt, ein ständiges Ringen um Aufmerksamkeit im Netz (Twitter, Blogs) ist und die sich mühsam aber überzeugt durch ihr festanstellungsloses Leben schlagen.

Man könnte die Geschichte aber auch anders erzählen: Es ist die postapokalytische (Grace Jones) Version einer Auferstehung aus der Krise. Seit den 1980er Jahren gehen in der Industriegesellschaft die Jobs verloren, Menschen werden aus einst sicheren und lebenslangen Arbeitsverhältnisse "frei gesetzt". Das erinnert an Jean Paul Sartres existenzphilosophischen Ansatz, so wie er in seinem Hauptwerk "Das Sein und das Nichts" auf den Punkt gebracht wird: "Der Mensch ist zur Freiheit verurteilt". Das Problem ist nur, dass die meisten mit dieser Freiheit nicht umgehen können. Trotzdem sucht die digitale Bohème nach genau dieser Freiheit. Jeremy Rifkin hat schon 1995 in seinem bekanntesten Buch "Das Ende der Arbeit" beschrieben, was mittlerweile immer deutlicher auf uns zukommt: Zunehmende Automatisierung, Rationalisierung und Digitalisierung ersetzt menschliche Arbeitskraft. Die Menschen werden "überflüssig" oder "ausgeschlossen", wie der Soziologe Heinz Bude es immer wieder betont. Rifkin sah an neue Elite am Horizont auftauchen, die "Symbolanalytiker". Diesen Begriff borgte es sich von Robert B. Reich aus, einen Politikprofessor, der auch mal Außenminister unter Bill Clinton war. 

Symbolanalytiker sind Menschen, die mit Codes (Software, Texte, Bilder) umgehen können. In Furtwangen werden hauptsächlich genau diese Symbolanalytiker ausgebildet. Diese Codes werden für die moderne Gesellschaft immer zentraler, weil es immer weniger darum geht, Produkte herzustellen, sondern Ideen zu vermarkten. Genau diese Mechanismen der Vermarktung intelligenter Softwarelösungen oder kreativer Webseiten beschreiben Friebe und Lob aus ihrer eigenen (Berliner) Praxis. Sie dröseln dazu einige Gesellschaftsdiagnosen auf und beschäftigen sich dann sehr ausführlich und erfahrungsreich mit den verschiedenen Komponenten der digitalen Ökonomie, der digitalen Kultur und des digitalen Lebens. 

Wie die alte Bohème versuchen auch sie das alles zusammen zu bringen. Und dabei Realisten zu bleiben: Die "schweifende Form der Existenzsicherung", die die Angehörigen der digitalen Bohème versinnbildlichen, ist für sie eine Art Beta-Version der immer schon prekären Lebenslagen der meisten (kreativen) Menschen. Projekthaftes Leben verspricht zwar Unabhängigkeit und Autonomie, hat aber auch Nachteile: Kontingenz und Entscheidungsdruck, Eigenverantwortung und Selbstmotivation sind nicht jedem/jeder angeboren. Das "Leben im Konjunktiv Futur" (so der Titel eines Kapitels) ist eben auch anstrengend. Aber wir haben ja die Wahl.

Beitrag zur Zukunft der Menschheit: Buch und Webseite zeigen, dass man sich auch mit viel Aufwand irren kann. Die meisten Menschen sehnen sich (damals wie heute) nicht nach Autonomie, sondern nach Orientierung.

Holm Friebe & Sascha Lobo: Wir nennen es Arbeit. Die digitale Bohème oder Intelligentes Leben jenseits der Festanstellung. 2007 (5. Auflage). Heyne: München. ISBN 978-3-453-12092-1 

Montag, 6. April 2009

Flipper, das Internet und ich

Gewicht: 540 Gramm; Maße: 210 x 135 x 30 mm

Einer der aktuellsten Versuche, sich optimistisch mit der Zukunft der Mediengesellschaft auseinander zu setzen, ist das Buch des Journalisten und Blogform-Gründers Michael Maier. Schon das Titelbild macht deutlich, worum es geht: Die linke Seite des abgebildeten Gehirns sieht so aus, wie man es erwartet, lauter Gehirnwindungen. Die rechte Seite ist abstrahiert und gleicht einem elektronischen Schaltkreis. Die Botschaft ist klar: Menschliches Gehirn und elektronisches Gehirn konvergieren. Sie tun dies, so Maier, zu nichts Geringerem als zur Rettung der Welt.

Ausgangspunkt der Zukunftsstudie von Maier sind eher düstere Gedanken. Maier sieht die Gattung Mensch im apokalyptischen Zeitalter durch zunehmende Komplexität der Problemstellungen bedroht. Um die Welt ist esschlecht bestellt: Sogar der Dalai Lama habe aufgegeben, denn die Probleme des 21. Jahrhunderts sind nicht mehr mit den Methoden des 20. Jahrhunderts zu lösen. Lösungen müssen zukünftig komplett anders erarbeitet werden. In der digitalen Industrie und ihren Vertretern (also auch bei sich selbst) sieht Maier die Helden von Morgen. Ein „postapokalyptisches Zeitalter“ (Grace Jones) braucht radikal neue Lösungsmethoden. Im Internet erkennt Maier die Möglichkeit zur Rettung. In den Menschen, die mailen, klicken und bloggen (also uns allen) sieht er die Retter der Welt: „Sie tun gemeinsam etwas zutiefst Sinnvolles“. In den beschleunigten Kommunikationsritualen des Netzes erkennt er einen Ausdruck existentieller Eile: „Wir kommunizieren um unser Leben“.

Wer alle seine Hoffnung in das Internet setzt, kann den kulturpessimistischen Klagen der „alten Elite“ nicht zustimmen. Den Vorwürfen einer zunehmenden Verdummung durch das Internet stellt Maier seine Utopie einer kollektiven Verbesserung der Welt durch die gemeinsame Nutzung des Netzes gegenüber. Es geht, so Maier, nicht um Degeneration sondern um „eine grandiose, kollektive Anstrengung“. Doch worin besteht diese Anstrengung und worin mündet sie?

Den Hauptnutzen des Internets sieht er in den „kollektiven Denkerfolgen“, wobei der dem Internet eine „Superhirnfunktion“ zuschreibt: „Das Internet verändert unser Gehirn. Und zwar nachhaltiger als alles, was wir bisher im Bereich von Kommunikation und Information erlebt haben. Intellektuelle Panikattaken zucken durch eine Welt, in der nichts mehr ist, wie es einmal war. (...)  Der Computer ist Teil von uns geworden“. Dies ist soweit noch nichts Neues, sondern nur eine schöne Umschreibung dessen, was man sonst trockener unter Mediatisierung und der Ubiquität neuer Medien versteht. Wie aber kann man nun mit dem „Superhirn“ Internet die Apokalyspe verhindern?

In der Internetgeneration erkennt Maier die Angehörigen einer neuen Klasse, die er ganz unbescheiden die „Helden von Morgen“ nennt. Die Digitale Bohème, wie sie an anderer Stelle genannt wird, unterscheidet sich aber von den „Helden von Gestern“, Typ Gandhi. Es geht nicht um Charisma, sondern um die Fähigkeit zur Vernetzung. Es gibt also nicht einen, sondern viele Helden. Prinzipiell unendlich viele – womit dann auch ein Paradoxon auftritt: Wenn alle Helden und/oder Elite sind, ist unklar, wie man sich dann noch (von anderen) unterscheidet. Jedenfalls haben diese Helden neue Eigenschaften: „Diese Helden erkennen wir nicht daran, dass sie besonders aus der Masse herausragen. Ihre Stärke liegt in ihrer Fähigkeit, sich in die Köpfe der anderen hineinzuversetzen. Das wichtigste Merkmal der Elite von morgen ist ihre Fähigkeit zur Integration“. Die Zukunftsform des Heldentums kommt also ohne Individualismus aus. Kollektivismus wird wieder gesellschaftsfähig.

Und das war angeblich schon von Anfang an so gedacht. Die Tatsache, dass das Internet nicht als exklusives militärisches Gerät endete, schreibt Maier einer „kollektiven Intuition“ zu, „einem Instinkt, der zum Begreifen führte, welches gewaltige Potenzial in der weltweiten Vernetzung besteht“. Um dies zu belegen, zitiert er eine (bei näherem Hinsehen) sehr ambivalente Aussage von Tim Berners-Lee, der bei der Geburtsstunde des Internets dabei war: „Die Leute, die das Internet und das Web gebaut haben, haben die größte Wertschätzung für das Individuum (...) Wenn alle Individuen den Willen dazu haben, dann können wir kollektiv eine Welt bauen, die wir haben wollen“. Wertschätzung für das Individuum und Integration durch kollektive Vernetzung – wie geht das zusammen?

In jedem Fall aber will Maier erkennen, dass die Vernetzung menschlicher Köpfe zum großen Superhirn bereits jetzt Form annimmt. Er vergleicht das Internet mit dem Echolotsystem, mit dem Delfine kommunizieren. Bei seinem Vergleich stützt er sich (leider) nur auf eine einzige Quelle, ein Buch der Entwicklungspsychologin Katharina Zimmer (Doktor Delfin. Wie Tiere heilen helfen, 2004). Dieses Buch ist nur ein Beispiel von vielen „Wunder-Büchern“, die den Einsatz von Delfinen in therapeutischen Kontexten beschreiben. Was ist nun das Besondere an Delfinen und warum kann man das Internet mit deren Kommunikation vergleichen?

Delfine stehen ständig miteinander im Kontakt. Man kann von einer „unheimlich raschen Wahrnehmungsintegration“ sprechen – so die Delfinforscherin Zimmer – die sich aus dem Zusammenspiel von Nah- und Fernsinnen der Delfine ergibt. In dieser Form von „Biofeedback“ kann man (wenn man möchte) eine neue Form der Intelligenz sehen (Übrigens ein sehr schönes Beispiel für einen sog. sozialen Zuschreibungsprozess: Intelligenz ist – aus wissenssoziologischer Perspektive – das, was wir für intelligent halten. Intelligenz ist also keine Eigenschaft, sondern das Resultat einer Übereinkunft). 

Maier plädiert dafür, dass Menschen es den Delfinen gleich machen und ein ausgeprägtes „Wir-Bewusstsein“ entwickeln sollten. Ähnlichkeiten gibt es durchaus: So wie Delfine direkt kommunizieren, können wir im Netz ohne Vermittler und Gate-Keeper kommunizieren. Kommunikation wird, so Maier, dadurch „unverfälscht“ und „direkt“, die Voraussetzungen für Wahrnehmungsintegration scheint gegeben: „Das Internet muss das perfekte menschliche Echolotsystem werden. (...) Ohne Zwischenhändler tauschen wir Informationen aus. (...) Oben und unten sind weniger wichtig als eine maximale horizontale Vernetzung. Jede Rückkopplung beeinflusst das eigene Denken. (...) Die Gemeinschaft honoriert jeden Beitrag, der der Spezies hilft. (...) Osmotisch saugen wir auf, und oszillierend geben wir weiter“. 

Es ist allerdings stark zu bezweifeln, ob schon durch diese sperrefreie horizontale Vernetzung auch qualitativ bessere Beiträge entstehen. Wenn Denken zu einem osmotischen und ozilllierenden Gemeinschaftsprozess wird, in dem konstruktive Beiträge belohnt werden, die für alle relevant sind, ist dies auch der Pferdefuß! Es sind eben nicht immer die mehrheitsfähigen Denkleistungen, die die Menschheit weitergebracht haben. Vielleicht ist das Resultat weniger die Rettung der Welt als deren mediokre Nivellierung? Vielleicht ist es sinnvoller, autonomes Denken zu schulen, anstatt einen „elektronischen Tastsinn“ und eine „kollektive Präsenz“ zu entwickeln?

Beitrag zur Zukunft der Menschheit: Der schönste Satz im Buch lautet: „Adam und Eva brauchten kein Handy“. Das Buch macht deutlich, dass die Komplexität der Ordnungsprinzipien einer Gesellschaft mit den Ansprüchen ihrer Mitglieder anwächst. Damit wächst auch die Komplexität von Deutungsangeboten. Das Gegenmodell nennt sich übrigens Esoterik.

Michael Maier: Die ersten Tage der Zukunft. Wie wir mit dem Internet unser Denken verändern und die Welt retten können. 2008. Pendo Verlag: München. ISBN 978-3-86612-171-3

Sonntag, 22. März 2009

Tiefflug unter dem Radar


Maße: 230 x 150 x 30 mm; Gewicht; 450 Gramm

Schon der Philosoph Seneca warnte vor Zeiten, in denen sich die Nachfahren wundern, dass die Vorfahren "so Offenbares nicht gewusst haben". Damit unserer Generation genau das nicht passiert, gibt es Zukunftsforschung - mit vielfältigen Methoden. Was auf den Schirm des "Zukunftsradars" zu sehen ist, erklärt Pero Micic. Wie man die Signale auf dem Schirm interpretiert, bleibt dem Leser selbst überlassen.

Zukunft ist kein Ziel, wie viele leider immer noch meinen, sondern ein Prozess. Nicht alle Menschen sind mit der notwendigen Sensibilität ausgestattet, diesen permanent im Hintergrund verlaufenden Prozess zu erkennen und richtig einzuschätzen. Dies erklärt auch die hohe Anzahl von Fehlentscheidungen in Bereichen wie Wirtschaft, Politik oder Kultur. 

Willam Gibson, der (von mir öfter mal zitierte) Cyberpunk-Autor hat das, was Soziologen ein wenig umständlich "Gegenwärtige Zukünfte" nennen, sehr schön auf den Punkt gebracht: "Die Zukunft ist schon da, nur noch nicht gleichmäßig verteilt". Für die gegenwärtigen Zukünfte sind wir meist blind. Wir überbewerten den Akt des Aufbruchs, das radikal Neue, ohne zu merken, dass sich die wesentlichen Änderungen nicht in Revolutionen, sondern in homöopathischen Dosen ereignen. Die Zukunft, ist nicht immer das Neue, aber immer das Andere.

Wenn Zukunft sich aber schon in der Gegenwart "verteilt", dann liegt in unserer technologiegläubigen Welt nichts näher, als die Einrichtung flächendeckender Messstationen, die die Verteilung der Zukunft auf einem Radarschirm (so wie die Verteilung des Flugverkehrs auf Flugfläche 100) zu erfassen. Fertig ist das Zukunftsradar - ein Begriff, der vorgibt, eine Methode zu sein, obwohl es in Wirklichkeit nur um das geschickte Marketing von Gefühlen zwischen Unsicherheit und Gestaltungswille geht.

Mit seinem Zukunftsradar möchte sich der Autor deutlich von den sonst im Überfluss vorhandenen Trendreports, Prognosen oder Szenarien abgrenzen, die seiner Meinung nach nur Verwirrung stiften. Alleine wegen seiner nachvollziehbaren Kritik am Markt der Zukunftsdeutungen und den Methoden der Zukunftsdeuter, die oft genug in der Tradition der Auguren und Orakel stehen, ist das Buch lesenswert. Der Zukunftsforschung stellt er - durchaus nicht uneigennützig (er ist Vorstand der FutureManagementGroup AG) - das Konzept des Zukunftsmanagements gegenüber, die Aufgabe der Strukturierung des vorhandenen Wissens und das Freilegen von Gestaltungsoptionen, die auf dieses Wissen aufbauen. Daher richtet sich sein Buch primär auch an die Vertreter der Wirtschaft, die schon jetzt Zukunftsthemen identifizieren (müssen). Dem Autor wird dabei leider der Widerspruch seiner eigenen Argumentation nicht bewusst, dass die als offen dargestellte Zukunftsschau des Radars letztlich dann doch nur zu Planungssicherheit in Märkten reduziert wird. 

Sein Ziel ist es, einen seriösen Überblick darüber zu geben, wie die Zukunft sich gerade schon verteilt. Das Radar bei Micic funktioniert daher so: 1. Zusammenstellung - Man nehme 100 aktuelle Zukunftsbücher und Zukunftsstudien und verschaffe sich zuerst einmal einen Überblick. Welche Aussagen werden dort getroffen? Wie beurteilen die Autoren für ihr jeweiliges Themenfeld die Zukunft? 2. Struktur - Die Zukunftsthemen werden in Cluster zusammengefasst, die auch das Buch strukturieren: Biossphärische, technologische, politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Zukunftsfaktoren. 3. Die "Radarfunktion" ergibt sich letztlich daraus, dass man durch fünf verschiedene Brillen auf die Zukunftsthemen sehen kann, die für je eine spezifische Zielrichtung stehen. Diese Methode ähnelt übrigens auffallend unkreativ der Methode der sechs "Denkhüte", die im vielen Büchern zur Ideenfindung und Kreativität angepriesen wird. Diese wiederum geht auf den legendären Walt Disney (Erfinder der Mickey Mouse und von Donald Duck) zurück, der sich bei seiner Ideenfindungsmethode sogar drei verschiedene Zimmer leisten konnte, die die verschiedenen Denkrichtungen repräsentierten.

Micic versammelt in diesem Sinne eine große Vielfalt an Zukunftsfaktoren aus den o.g. Bereichen. Richtig viel Neues findet sich nicht darunter, aber das behauptet der Autor ja auch nicht. Das Buch bietet dafür etwas, wofür sich andere Autoren von Büchern über die Zukunft zu schade sind. Getreu des Mottos von Odo Marquardt, einem deutschen Philosophen, der den Sinnspruch "Zukunft braucht Herkunft" geprägt hat, versucht Micic 5.000 Jahre Philosophie und Theorie des Wandels in einem "praktischen Schnellkurs" zu vermitteln. Immerhin 30 Seiten Raum nimmt er sich für diesen epochalen Überblick! Dieser ist aber so gut strukturiert, dass man ihn ohne Bedenken empfehlen kann. Dem Leser wird klar, dass sich Wandel schon immer in Form, Richtung, Mechanismus und (gesellschaftlicher) Bewertung unterschied und heute noch unterscheidet. Dies ist dann auch der eigentlich Mehrwert des Buches. Es zeigt, dass Zukunft immer auch von den je herrschenden Vorstellungen über (sozialen, technischen etc.) Wandel anhängt. Die Vergangenheit, so zeigt es die makrohistorische Perspektive, ist nichts anderes als ein kollektiver Wertespeicher. 

Dies bedeutet nichts anderes, als dass es keine neutrale Zukunft geben kann, sondern immer nur normativ gerahmte, institutionell verankerte, nach Interessen bewertete Zukünfte. Je nach Meinung und Interesse kann eine Neuerung als Fortschritt, als Niedergang oder als Entwicklung daherkommen. Wir alle sind an diesen Einschätzungen alltäglich beteiligt, d.h. wir "produzieren" unablässig Zukunft. Vielleicht sollten wir uns dabei machmal ein wenig mehr Mühe geben.

Beitrag für die Zukunft der Menschheit: 1. Die Erkenntnis, dass wir nicht auf das Neue warten müssen, weil es auf allen Ebenen bereits Alltag ist. 2. Die Erkenntnis, dass Zukunft (von uns allen) gemacht werden kann.

Pero Micic: Das Zukunftsradar. Die wichtigsten Trends, Technologien und Themen für die Zukunft, 2006, 2. Auflage. Gabal Verlag, Offenbach.

Dienstag, 17. März 2009

Existentielle Funklöcher statt Kommunikationsfallen

Gewicht: 366 Gramm, Maße: 210 x 155 mm x 20 mm

Müssen Sie immer ein Gespräch annehmen, nur weil Ihr Telefon oder Handy klingelt? Sind Sie jemand, der ständig nachschaut, ob er eine neue Mail bekommen hat oder jemand, der zwanghaft auf eine SMS antwortet. Wenn Sie wissen möchten, was selbst angebautes Biogemüse, der Ausschalter ihres Fernsehapparats und der Verzicht auf E-Mails miteinander zu tun haben, dann sollten sie weiterlesen ...


Obwohl es so scheint, als ob wir alle Opfer der allgemeinen Beschleunigung, der "Informationsbombe" (Paul Virilio) und zahlreicher Kommunikationsfallen sind, gibt es sie noch, die ganz einfachen EXIT-Möglichkeiten. Manche nennen sie schlicht Entschleunigung, so wie die Vertreter der sog. Slow-Food-Bewegung, denen es darauf ankommt, "zu wissen, was man isst". Es gibt sogar langsame Städte, die sich mit ähnlicher Zielsetzung zur Citta-Slow-Bewegung zusammengeschlossen haben und denen es darum geht, das Leben in Städten wieder lebenswerter zu machen (Furtwangen gehört - noch nicht - dazu).

Ähnliche Zielsetzungen verfolgt Miriam Meckel, die Autorin des Buches "Das Glück der Unereichbarkeit". Der Professorin für 'Corporate Communication' (Universität St. Gallen) geht es darum, zu zeigen, wie das Leben lebenswerter werden kann, wenn man weiß, wie man (richtig) kommuniziert. Um es vorweg zu sagen: Der Großteil des Buches ist für medienaffine Menschen eher langweilig - das Zielpublikum sind wohl eher Leute, die es aufregend finden, wenn sie eine Software das erste Mal selbst installieren und danach alles funktioniert. Die Autorin ist auch nicht gerade bescheiden, um nicht zusagen: eine Zicke. Ständig erwähnt sie, wie wichtig sie selbst ist, wer alles etwas von ihr will und wie oft sie im Monat nach New York jettet. Die Idee zum Buch hatte sie, weil sie einfach so viel kommunizieren muss, ach! Das ganze Buch wirkt so, als hätte der Verlag gesagt: "Ok, kommunikative Unerreichbarkeit, das ist eine gute Idee. Dummerweise fehlen jetzt noch 180 Seiten, damit daraus ein Buch wird. Schreiben Sie ein bisschen was über diese Online-Sachen. Sie wissen schon."

Und das hat sie dann auch getan. Vergessen wir einfach, was Miriam Meckel uns über "Liebeskommunikation in der Netzwelt" erklären möchte (wir haben es schon vor ihr probiert, aber richtig!). Lassen wir uns nicht einschüchtern, von Kapiteltiteln wie "Das vibrierende Ich: Nackt im Netz ohne die Grenzen des Privaten" (wir wissen, was wir tun!). Übersehen wir galant das Kapitel "Digitale Zeitdiebe und Hausbesetzter: Wie Technik unser Leben bestimmt (der Titel wirkt wie aus einer Apotheken-Zeitschrift). Empfehlenswert sind dennoch die Einleitung "Wir Simultanten: Immer erreichbar, im Standby", sowie das erste Kapitel "In der Kommunikationsfalle: Datenflut und Denkebbe".

Meckel arbeitet in diesen beiden zentralen Kapitel heraus, was man auch aus soziologischer Perspektive die Ambivalenz der modernen Existenz nennen könnte. Wir wollen dazugehören, vernetzt sein, beachtet werden usf. Aber immer mehr Menschen möchten die damit verbundene "Pflicht zur Kommunikation" nicht einlösen. Wir sind kommunikative Zierfische und gleichzeitig normative Drückeberger.

Worin besteht nun die Kommunikationsfalle? Das erste (eher soziologische) Problem dabei ist, dass technische Vernetzung noch lange keine soziale Anbindung nach sich zieht. Es ist so ganz anders, als es einmal Howard Rheingold in seinem Klassiker "Virtual Community" beschrieben hat. Er dachte es sich so: Man arbeitet vernetzt, kennt sich aber und hilft sich im RL, dort, wo es nötig sein sollte. Heute ist es so: Man hat "Follower" und "Kontakte", aber noch lange keine Freunde. 

Das zweite Problem ist eher psychologischer oder spiritueller Natur: Wer dauernd kommuniziert, am besten mit allen gleichzeitig, der hört niemandem mehr richtig zu. Was die meisten vergessen: Es gilt auch die Umkehrung der Aussage: Niemand hört uns mehr (richtig) zu. Schon lange beobachte ich, dass die wenigsten Menschen noch dazu in der Lage sind, sich mehr als drei Sätze zu konzentrieren und aufmerksam zuzuhören. Von der Unhöflichkeit, gleichzeitig ein Telefonat auf dem Festnetz und eines auf dem Mobiltelefon zu führen, ganz zu schweigen...

Meckel will die digitalen Kommunikationsmedien deshalb aber nicht gleich abschaffen. Aber sie sucht nach Tipps, in einer "richtigen" und "sozial verträglichen" Art und Weise mit ihnen umzugehen. In der Fachwelt nennt man das Kommunikationsökologie. Dazu gehören bewusste Kommunikationspausen, die autonom das eigene Leben strukturieren und uns Zeit für Wichtiges geben: "Wir müssen technisch ausschalten, um gedanklich abschalten zu können". Abschalten vom Stress, vom Rat-Race, von den Intrigen des Alltags. Abschalten von den vielen To-Do's, den Checklisten und Mindmaps die unser Hirn martern. 

Ich will die vielen Tipps nicht vorwegnehmen, die Meckel in ihrem Buch entwickelt, aber auf ihre Philosophie hinweisen: "Jeder braucht heute von Zeit zu Zeit sein individuelles existentielles Funkloch. Das sorgt nicht nur für eine Steigerung der Lebensqualität, es ist überlebenswichtig".

Der "homo connectus" ist nicht verloren. Er kann aus der Datenfalle entkommen. Dafür gibt Meckel einige (erwartbare) Hinweise und praktische Tipps. Woran es diesem Buch mangelt, ist eine Erklärung darüber, wie man solche neuen Gewohnheiten (der kommunikativen Unerreichbarkeit) für sich selbst entwickelt (denn der Mensch ist ein Gewohnheitstier - neue Routinen aufzubauen ist die Hölle) und wie man als Gesellschaft zu neuen Kommunikationspflichten und -erwartungen gelangt. Denn es nützt wenig, wenn man als Einzelperson den Kommunikationsstöpsel zieht und dafür - früher oder später - von anderen bestraft wird, weil man der herrschenden Norm nicht entspricht. Der neuen Gewohnheit zu Unereichbarkeit müsste also ein neues Recht auf Unerreichbarkeit gegenüber stehen. Darüber, wie dieses Recht herstellbar ist, sagt die Autorin leider nichts.

Das Buch ist letztlich weniger eine kommunikationssoziologische Studie, sondern eines der weit verbreiteten Lebensratgeberbücher, die ich persönlich so sehr "liebe". Nicht weil ich sie bräuchte oder weil ich deren Inhalt gut finde. Sondern einfach deshalb, weil diese "Tue XYZ und du wirst sooo glücklich-Bücher" ein wunderbarer Ausdruck unserer kulturellen Ratlosigkeit sind. Immer mehr Menschen suchen Antworten auf Fragen, die früher jeder für sich selbst beantworten konnte. Beispiel:  Vor ein paar Tagen sah ich ein Kochbuch für Babybrei. Babybrei mit allerlei Geschmacksvarianten. Ich rief meine Mutter an, und fragte, ob es zu der Zeit, als ich ein Baby war, Kochbücher für Babybrei gab. Natürlich gab es keine. Meine  Mutter wusste einfach, wie man Babybrei zubereitete. Oder sie lebte in einem kommunikativen Umfeld, das über diese Informationen verfügte und diese weitergab (wahrscheinlich waren meine Großmütter dieses kommunikative Umfeld). 

Früher wusste man, das man ab und zu seine Ruhe braucht. Und man wusste, wie man es anstellt, in Ruhe gelassen zu werden. Heute ist es möglich, über ein und denselben Sachverhalt einen Bestseller zu schreiben. 

Beitrag zur Zukunft der Menschheit: Das Buch erhöht die Chance, dass wir nicht doch alle verrückt werden und im Informationsmüll versinken.

Miriam Meckel: Das Glück der Unerreichbarkeit. Wege aus der Kommunikationsfalle. 2007 (3. Auflage). Murmann Verlag, Hamburg, ISBN 978-3-86774-002-9

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