Jede Woche stelle ich hier (ab Mitte März 09) ein Buch vor. Alle Autoren haben ein gemeinsames Thema. Sie machen sich - jeder auf seine Weise - Gedanken über die Zukunft. In diesem Blog werden die nach subjektiven Kriterien ausgewählten Monographien vorgestellt und in einen größeren Zusammenhang eingeordnet. zweitwissen will neugierig machen und zum Lesen eines kompletten Buches anregen, anstatt sich nur Informationshäppchen im Netz "anzulesen".

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Motto: "Umwege erhöhen die Ortskenntnisse"

Sonntag, 22. März 2009

Tiefflug unter dem Radar


Maße: 230 x 150 x 30 mm; Gewicht; 450 Gramm

Schon der Philosoph Seneca warnte vor Zeiten, in denen sich die Nachfahren wundern, dass die Vorfahren "so Offenbares nicht gewusst haben". Damit unserer Generation genau das nicht passiert, gibt es Zukunftsforschung - mit vielfältigen Methoden. Was auf den Schirm des "Zukunftsradars" zu sehen ist, erklärt Pero Micic. Wie man die Signale auf dem Schirm interpretiert, bleibt dem Leser selbst überlassen.

Zukunft ist kein Ziel, wie viele leider immer noch meinen, sondern ein Prozess. Nicht alle Menschen sind mit der notwendigen Sensibilität ausgestattet, diesen permanent im Hintergrund verlaufenden Prozess zu erkennen und richtig einzuschätzen. Dies erklärt auch die hohe Anzahl von Fehlentscheidungen in Bereichen wie Wirtschaft, Politik oder Kultur. 

Willam Gibson, der (von mir öfter mal zitierte) Cyberpunk-Autor hat das, was Soziologen ein wenig umständlich "Gegenwärtige Zukünfte" nennen, sehr schön auf den Punkt gebracht: "Die Zukunft ist schon da, nur noch nicht gleichmäßig verteilt". Für die gegenwärtigen Zukünfte sind wir meist blind. Wir überbewerten den Akt des Aufbruchs, das radikal Neue, ohne zu merken, dass sich die wesentlichen Änderungen nicht in Revolutionen, sondern in homöopathischen Dosen ereignen. Die Zukunft, ist nicht immer das Neue, aber immer das Andere.

Wenn Zukunft sich aber schon in der Gegenwart "verteilt", dann liegt in unserer technologiegläubigen Welt nichts näher, als die Einrichtung flächendeckender Messstationen, die die Verteilung der Zukunft auf einem Radarschirm (so wie die Verteilung des Flugverkehrs auf Flugfläche 100) zu erfassen. Fertig ist das Zukunftsradar - ein Begriff, der vorgibt, eine Methode zu sein, obwohl es in Wirklichkeit nur um das geschickte Marketing von Gefühlen zwischen Unsicherheit und Gestaltungswille geht.

Mit seinem Zukunftsradar möchte sich der Autor deutlich von den sonst im Überfluss vorhandenen Trendreports, Prognosen oder Szenarien abgrenzen, die seiner Meinung nach nur Verwirrung stiften. Alleine wegen seiner nachvollziehbaren Kritik am Markt der Zukunftsdeutungen und den Methoden der Zukunftsdeuter, die oft genug in der Tradition der Auguren und Orakel stehen, ist das Buch lesenswert. Der Zukunftsforschung stellt er - durchaus nicht uneigennützig (er ist Vorstand der FutureManagementGroup AG) - das Konzept des Zukunftsmanagements gegenüber, die Aufgabe der Strukturierung des vorhandenen Wissens und das Freilegen von Gestaltungsoptionen, die auf dieses Wissen aufbauen. Daher richtet sich sein Buch primär auch an die Vertreter der Wirtschaft, die schon jetzt Zukunftsthemen identifizieren (müssen). Dem Autor wird dabei leider der Widerspruch seiner eigenen Argumentation nicht bewusst, dass die als offen dargestellte Zukunftsschau des Radars letztlich dann doch nur zu Planungssicherheit in Märkten reduziert wird. 

Sein Ziel ist es, einen seriösen Überblick darüber zu geben, wie die Zukunft sich gerade schon verteilt. Das Radar bei Micic funktioniert daher so: 1. Zusammenstellung - Man nehme 100 aktuelle Zukunftsbücher und Zukunftsstudien und verschaffe sich zuerst einmal einen Überblick. Welche Aussagen werden dort getroffen? Wie beurteilen die Autoren für ihr jeweiliges Themenfeld die Zukunft? 2. Struktur - Die Zukunftsthemen werden in Cluster zusammengefasst, die auch das Buch strukturieren: Biossphärische, technologische, politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Zukunftsfaktoren. 3. Die "Radarfunktion" ergibt sich letztlich daraus, dass man durch fünf verschiedene Brillen auf die Zukunftsthemen sehen kann, die für je eine spezifische Zielrichtung stehen. Diese Methode ähnelt übrigens auffallend unkreativ der Methode der sechs "Denkhüte", die im vielen Büchern zur Ideenfindung und Kreativität angepriesen wird. Diese wiederum geht auf den legendären Walt Disney (Erfinder der Mickey Mouse und von Donald Duck) zurück, der sich bei seiner Ideenfindungsmethode sogar drei verschiedene Zimmer leisten konnte, die die verschiedenen Denkrichtungen repräsentierten.

Micic versammelt in diesem Sinne eine große Vielfalt an Zukunftsfaktoren aus den o.g. Bereichen. Richtig viel Neues findet sich nicht darunter, aber das behauptet der Autor ja auch nicht. Das Buch bietet dafür etwas, wofür sich andere Autoren von Büchern über die Zukunft zu schade sind. Getreu des Mottos von Odo Marquardt, einem deutschen Philosophen, der den Sinnspruch "Zukunft braucht Herkunft" geprägt hat, versucht Micic 5.000 Jahre Philosophie und Theorie des Wandels in einem "praktischen Schnellkurs" zu vermitteln. Immerhin 30 Seiten Raum nimmt er sich für diesen epochalen Überblick! Dieser ist aber so gut strukturiert, dass man ihn ohne Bedenken empfehlen kann. Dem Leser wird klar, dass sich Wandel schon immer in Form, Richtung, Mechanismus und (gesellschaftlicher) Bewertung unterschied und heute noch unterscheidet. Dies ist dann auch der eigentlich Mehrwert des Buches. Es zeigt, dass Zukunft immer auch von den je herrschenden Vorstellungen über (sozialen, technischen etc.) Wandel anhängt. Die Vergangenheit, so zeigt es die makrohistorische Perspektive, ist nichts anderes als ein kollektiver Wertespeicher. 

Dies bedeutet nichts anderes, als dass es keine neutrale Zukunft geben kann, sondern immer nur normativ gerahmte, institutionell verankerte, nach Interessen bewertete Zukünfte. Je nach Meinung und Interesse kann eine Neuerung als Fortschritt, als Niedergang oder als Entwicklung daherkommen. Wir alle sind an diesen Einschätzungen alltäglich beteiligt, d.h. wir "produzieren" unablässig Zukunft. Vielleicht sollten wir uns dabei machmal ein wenig mehr Mühe geben.

Beitrag für die Zukunft der Menschheit: 1. Die Erkenntnis, dass wir nicht auf das Neue warten müssen, weil es auf allen Ebenen bereits Alltag ist. 2. Die Erkenntnis, dass Zukunft (von uns allen) gemacht werden kann.

Pero Micic: Das Zukunftsradar. Die wichtigsten Trends, Technologien und Themen für die Zukunft, 2006, 2. Auflage. Gabal Verlag, Offenbach.

Dienstag, 17. März 2009

Existentielle Funklöcher statt Kommunikationsfallen

Gewicht: 366 Gramm, Maße: 210 x 155 mm x 20 mm

Müssen Sie immer ein Gespräch annehmen, nur weil Ihr Telefon oder Handy klingelt? Sind Sie jemand, der ständig nachschaut, ob er eine neue Mail bekommen hat oder jemand, der zwanghaft auf eine SMS antwortet. Wenn Sie wissen möchten, was selbst angebautes Biogemüse, der Ausschalter ihres Fernsehapparats und der Verzicht auf E-Mails miteinander zu tun haben, dann sollten sie weiterlesen ...


Obwohl es so scheint, als ob wir alle Opfer der allgemeinen Beschleunigung, der "Informationsbombe" (Paul Virilio) und zahlreicher Kommunikationsfallen sind, gibt es sie noch, die ganz einfachen EXIT-Möglichkeiten. Manche nennen sie schlicht Entschleunigung, so wie die Vertreter der sog. Slow-Food-Bewegung, denen es darauf ankommt, "zu wissen, was man isst". Es gibt sogar langsame Städte, die sich mit ähnlicher Zielsetzung zur Citta-Slow-Bewegung zusammengeschlossen haben und denen es darum geht, das Leben in Städten wieder lebenswerter zu machen (Furtwangen gehört - noch nicht - dazu).

Ähnliche Zielsetzungen verfolgt Miriam Meckel, die Autorin des Buches "Das Glück der Unereichbarkeit". Der Professorin für 'Corporate Communication' (Universität St. Gallen) geht es darum, zu zeigen, wie das Leben lebenswerter werden kann, wenn man weiß, wie man (richtig) kommuniziert. Um es vorweg zu sagen: Der Großteil des Buches ist für medienaffine Menschen eher langweilig - das Zielpublikum sind wohl eher Leute, die es aufregend finden, wenn sie eine Software das erste Mal selbst installieren und danach alles funktioniert. Die Autorin ist auch nicht gerade bescheiden, um nicht zusagen: eine Zicke. Ständig erwähnt sie, wie wichtig sie selbst ist, wer alles etwas von ihr will und wie oft sie im Monat nach New York jettet. Die Idee zum Buch hatte sie, weil sie einfach so viel kommunizieren muss, ach! Das ganze Buch wirkt so, als hätte der Verlag gesagt: "Ok, kommunikative Unerreichbarkeit, das ist eine gute Idee. Dummerweise fehlen jetzt noch 180 Seiten, damit daraus ein Buch wird. Schreiben Sie ein bisschen was über diese Online-Sachen. Sie wissen schon."

Und das hat sie dann auch getan. Vergessen wir einfach, was Miriam Meckel uns über "Liebeskommunikation in der Netzwelt" erklären möchte (wir haben es schon vor ihr probiert, aber richtig!). Lassen wir uns nicht einschüchtern, von Kapiteltiteln wie "Das vibrierende Ich: Nackt im Netz ohne die Grenzen des Privaten" (wir wissen, was wir tun!). Übersehen wir galant das Kapitel "Digitale Zeitdiebe und Hausbesetzter: Wie Technik unser Leben bestimmt (der Titel wirkt wie aus einer Apotheken-Zeitschrift). Empfehlenswert sind dennoch die Einleitung "Wir Simultanten: Immer erreichbar, im Standby", sowie das erste Kapitel "In der Kommunikationsfalle: Datenflut und Denkebbe".

Meckel arbeitet in diesen beiden zentralen Kapitel heraus, was man auch aus soziologischer Perspektive die Ambivalenz der modernen Existenz nennen könnte. Wir wollen dazugehören, vernetzt sein, beachtet werden usf. Aber immer mehr Menschen möchten die damit verbundene "Pflicht zur Kommunikation" nicht einlösen. Wir sind kommunikative Zierfische und gleichzeitig normative Drückeberger.

Worin besteht nun die Kommunikationsfalle? Das erste (eher soziologische) Problem dabei ist, dass technische Vernetzung noch lange keine soziale Anbindung nach sich zieht. Es ist so ganz anders, als es einmal Howard Rheingold in seinem Klassiker "Virtual Community" beschrieben hat. Er dachte es sich so: Man arbeitet vernetzt, kennt sich aber und hilft sich im RL, dort, wo es nötig sein sollte. Heute ist es so: Man hat "Follower" und "Kontakte", aber noch lange keine Freunde. 

Das zweite Problem ist eher psychologischer oder spiritueller Natur: Wer dauernd kommuniziert, am besten mit allen gleichzeitig, der hört niemandem mehr richtig zu. Was die meisten vergessen: Es gilt auch die Umkehrung der Aussage: Niemand hört uns mehr (richtig) zu. Schon lange beobachte ich, dass die wenigsten Menschen noch dazu in der Lage sind, sich mehr als drei Sätze zu konzentrieren und aufmerksam zuzuhören. Von der Unhöflichkeit, gleichzeitig ein Telefonat auf dem Festnetz und eines auf dem Mobiltelefon zu führen, ganz zu schweigen...

Meckel will die digitalen Kommunikationsmedien deshalb aber nicht gleich abschaffen. Aber sie sucht nach Tipps, in einer "richtigen" und "sozial verträglichen" Art und Weise mit ihnen umzugehen. In der Fachwelt nennt man das Kommunikationsökologie. Dazu gehören bewusste Kommunikationspausen, die autonom das eigene Leben strukturieren und uns Zeit für Wichtiges geben: "Wir müssen technisch ausschalten, um gedanklich abschalten zu können". Abschalten vom Stress, vom Rat-Race, von den Intrigen des Alltags. Abschalten von den vielen To-Do's, den Checklisten und Mindmaps die unser Hirn martern. 

Ich will die vielen Tipps nicht vorwegnehmen, die Meckel in ihrem Buch entwickelt, aber auf ihre Philosophie hinweisen: "Jeder braucht heute von Zeit zu Zeit sein individuelles existentielles Funkloch. Das sorgt nicht nur für eine Steigerung der Lebensqualität, es ist überlebenswichtig".

Der "homo connectus" ist nicht verloren. Er kann aus der Datenfalle entkommen. Dafür gibt Meckel einige (erwartbare) Hinweise und praktische Tipps. Woran es diesem Buch mangelt, ist eine Erklärung darüber, wie man solche neuen Gewohnheiten (der kommunikativen Unerreichbarkeit) für sich selbst entwickelt (denn der Mensch ist ein Gewohnheitstier - neue Routinen aufzubauen ist die Hölle) und wie man als Gesellschaft zu neuen Kommunikationspflichten und -erwartungen gelangt. Denn es nützt wenig, wenn man als Einzelperson den Kommunikationsstöpsel zieht und dafür - früher oder später - von anderen bestraft wird, weil man der herrschenden Norm nicht entspricht. Der neuen Gewohnheit zu Unereichbarkeit müsste also ein neues Recht auf Unerreichbarkeit gegenüber stehen. Darüber, wie dieses Recht herstellbar ist, sagt die Autorin leider nichts.

Das Buch ist letztlich weniger eine kommunikationssoziologische Studie, sondern eines der weit verbreiteten Lebensratgeberbücher, die ich persönlich so sehr "liebe". Nicht weil ich sie bräuchte oder weil ich deren Inhalt gut finde. Sondern einfach deshalb, weil diese "Tue XYZ und du wirst sooo glücklich-Bücher" ein wunderbarer Ausdruck unserer kulturellen Ratlosigkeit sind. Immer mehr Menschen suchen Antworten auf Fragen, die früher jeder für sich selbst beantworten konnte. Beispiel:  Vor ein paar Tagen sah ich ein Kochbuch für Babybrei. Babybrei mit allerlei Geschmacksvarianten. Ich rief meine Mutter an, und fragte, ob es zu der Zeit, als ich ein Baby war, Kochbücher für Babybrei gab. Natürlich gab es keine. Meine  Mutter wusste einfach, wie man Babybrei zubereitete. Oder sie lebte in einem kommunikativen Umfeld, das über diese Informationen verfügte und diese weitergab (wahrscheinlich waren meine Großmütter dieses kommunikative Umfeld). 

Früher wusste man, das man ab und zu seine Ruhe braucht. Und man wusste, wie man es anstellt, in Ruhe gelassen zu werden. Heute ist es möglich, über ein und denselben Sachverhalt einen Bestseller zu schreiben. 

Beitrag zur Zukunft der Menschheit: Das Buch erhöht die Chance, dass wir nicht doch alle verrückt werden und im Informationsmüll versinken.

Miriam Meckel: Das Glück der Unerreichbarkeit. Wege aus der Kommunikationsfalle. 2007 (3. Auflage). Murmann Verlag, Hamburg, ISBN 978-3-86774-002-9

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