Jede Woche stelle ich hier (ab Mitte März 09) ein Buch vor. Alle Autoren haben ein gemeinsames Thema. Sie machen sich - jeder auf seine Weise - Gedanken über die Zukunft. In diesem Blog werden die nach subjektiven Kriterien ausgewählten Monographien vorgestellt und in einen größeren Zusammenhang eingeordnet. zweitwissen will neugierig machen und zum Lesen eines kompletten Buches anregen, anstatt sich nur Informationshäppchen im Netz "anzulesen".

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Motto: "Umwege erhöhen die Ortskenntnisse"
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Dienstag, 19. Mai 2009

Die Zukunft wiegt schwer, so viel ist sicher

Gewicht: 2,3 kg; Maße: 240 x 175 x 50 mm

Das voluminöse Werk gleicht nicht nur äußerlich der Bibel. Es versteht sich auch als eine Art Bibel der Zukunftsforschung. Fast alles, worüber man berichten kann, wird darin angerissen - mehr aber auch nicht. Und der Autor ist so eine Art Jünger der Zukunftsforscher, einer der seriösen allerdings. Jemand, der "dem Volk auf's Maul schaut und der Regierung auf die Finger klopft". Nur zu!

Wer sich einmal gründlich über die Zukunft informieren möchte, der kommt an Horst W. Opaschowski nicht vorbei. Der ehemalige Tourismusforscher hat sich zwischenzeitlich zum Trend- bzw. Zukunftsforscher gewandelt. Reichten die Vorgängerbücher "Deutschland 2010" und „Deutschland 2020“ nur bis an die unmittelbare Zukunft heran, so wagt der Autor nun mit „Deutschland 2030“ den großen Wurf. Vielleicht ist das aber auch nur eine gute, sich immer wieder selbst erneuernde Marketingstrategie?

Seine Studien lässt sich Opaschowski ausgerechnet von der „Stiftung für Zukunftsfragen“, einer Initiative von British American Tobacco finanzieren. Ein Lobbyverband der Zigarettenindustrie, der sich für die Zukunft interessiert? Warum nicht. Seit einigen prominenten Umweltkatastrophen treten ja auch bekannte Ölfirmen im Gewand der Nachhaltigkeitsforscher auf. Die größten Kontraste scheinen am wenigsten aufzufallen.

Es ist fast unmöglich, die Informationen des Buches in komprimierter Form wieder zu geben. Es ist schlicht ein Füllhorn und beschäftigt sich mit fast allen relevanten Bereichen des Wandels. Dem Wandel der Arbeits- und Erwerbswelt, dem Wandel der Konsumwelt, der Bildungswelt, der Medienwelt und vielen anderen mehr. Jedes Kapitel hat genau zehn Unterkapitel – so schön lässt sich die Welt bei Opaschowski gliedern. Ich schaffe das nie, auch wenn ich es versuche. 

Und seine Prognosen? Es sind weniger Prognosen als detaillierte, empirische fundierte Deskriptionen der Gegenwart. Die Empirie erledigt Opaschowski oftmals gleich selbst. Dies grenzt ihn aber zumindest von denjenigen Zukunftsforschern ab, die nicht viel mehr leisten, als rhetorische Nebelbomben zu zünden. Dennoch wird es auch bei Opaschowski manchmal kryptisch. 

Da ist dann die Rede von der „Angst vor der @-Bombe“, der „Generation @“ oder von der Formel „0,5 x 2 x 3“, was soviel bedeutet wie: „Die Hälfte der Mitarbeiter verdient doppelt so viel und muss dafür dreimal so viel leisten wie früher“. Nicht gerade schöne Zukunftsaussichten, glaubt man der „Arbeitsformel von morgen“. Noch schnell eine Formel: „E plus U gleich I“. was ist  nun damit gemeint? In der Sphäre der Kultur von morgen, so Opaschowski, wachsen die „Ernste Kultur“ und die „Unterhaltungskultur“ zu einer „Integrationskultur“ zusammen, einer Kultur mit Breitenwirkung. Da hätten wir ihn wieder, einen meiner Lieblingsausdrücke: die breite Masse.

Besonders instruktiv war für mich (als Autor eines Buches über ehrenamtliches Engagement im Bereich der Tafeln) das Kapitel über „Informelles Helfen“ und die Faszination der Freiwilligenarbeit. Er bringt sehr schön auf den Punkt, was ich an anderer Stelle als „demonstratives Helfen“ bezeichnet habe: „Beim Engagement geht es in erster Linie um biographische Anliegen, um die eigene Persönlichkeitsentwicklung, das Eigeninteresse und die Selbstentfaltung.“ 

Beitrag zur Zukunft der Menschheit: Jeder kann sich nun ein Bild über die Zukunft machen und sicher ist für jeden etwas dabei. Dies ist das Hauptverdienst des dicken Wälzers, der - nebenbei bemerkt - unzählige Internetrecherchen ersetzt.

Horst W. Opaschowski: Deutschland 2030. Wie wir in Zukunft leben werden. 2008. Gütersloher Verlagshaus: Gütersloh. ISBN 978-3-579-06991-3

Samstag, 9. Mai 2009

Wohin mit dem Menschenmüll?


Gewicht: 345 Gramm, Maße: 321 x 210 x 34 mm

Was passiert, wenn eines Tages mehr als die Hälfte der Bundesbürger arbeitslos sind? Wenn Arbeitsvermittler wie früher Außenminister mit dem Hubschrauber eingeflogen werden? Der preisgekrönte Roman von Joachim Zelter ist ein Muss für alle, die sich mit kritischen Gesellschaftsdiagnosen interessieren.

Seit Jahren warnen Soziologen wie Horst Bude, der 1998 in einem Artikel den Begriff "Die Überflüssigen" geprägt hat, vor der Umsortierung der Menschen in dieser Gesellschaft. Die Peripherie wächst, die Mitte schrumpft und klammert sich in ihrer sozialen Abstiegsangst an die letzten Nischen "in der nackten Felswand der zerklüfteten Klassengesellschaft" (Barbara Ehrenreich in "Working poor"). Was passiert, wenn plötzlich Millionen Menschen nicht mehr dazu gehören (im soziologischen Sprachgebrauch: "exkludiert" werden) - das habe ich selbst in meinen Buch "Fast ganz unten" beschrieben. In der Zeit des Schreibens hat mich der Gedanke daran, dass die Gesellschaft gerade grundlegend "umsortiert" wird (ohne das wir das mitbekommen) verfolgt. Wie das aussehen kann, schildert Zelter in seinem ausgezeichneten Buch. Ein Roman mit soziologischem Tiefgang oder eine soziologische Studie in Romanform - ich kann mich nicht entscheiden.

In einer nicht allzu fernen Zukunft ist das "Ende der Arbeit" (so 1995 der Titel eines berühmten Buches von J. Rifkin) gekommen. Es gibt fast mehr Arbeitslose als Erwerbstätige, Erwerbsarbeit, über die wir uns in dieser Zukunft (leider immer noch) definieren, ist ein knappes Gut, weil Prozesse der Automatisierung, Digitalisierung und Rationalisierung außer den wenigen, gebildeten "Symbolanalytikern" alle Menschen freisetzen, d.h. überflüssig machen: "Während der gesamten Menschheitsgeschichte war Arbeit a priori gegeben. Sie hat die Menschen Jahrtausende lang begleitet, belagert, verfolgt. In den letzten Jahren hat sich dies verändert. Die Arbeit verfolgt nicht mehr. Wir verfolgen sie. Wir fahnden nach ihr. Wie nach einem kostbaren Rohstoff. Oder wie Jäger nach Beute. Die eigentliche Arbeit ist heute nicht mehr die Arbeit selbst, sondern die Suche nach Arbeit".

Die vielen Arbeitslosen dieser arbeitslosen Gesellschaft haben nur noch eine letzte Chance - dann, wenn sie von ihrem Berater dazu "auserwählt" werden, die "Schule der Arbeitslosen" zu besuchen. Das ist eine Art Kaserne in einem alten Fabrikgebäude, mit Trainer, die eher Feldwebeln gleichen, harten Regeln, Drill und keinem Ausweg. In der Soziologie nennt man so etwas eine "totale Institution", eine Kaserne, ein Gefängnis etwa, oder ein Kloster. Dort verliert jede/r die bürgerlichen und die persönlichen Rechte.

Das Leben der im Roman knapp und präzise beschriebenen Institution gleicht einer Mischung aus Kaserne, Gefängnis und Kloster. Es gibt einen Dress Code und ein ausgeklügelten Belohnungssystem (unterschiedliche Coins für den Kaffeeautomaten). Und es gibt das Training, das dazu führen soll, dass die Arbeitslosen sich wieder unterscheiden. Womit wir bei einem zentralen soziologischen Thema des Buches wären.

Der Soziologe Ulrich Beck stellt in seinem Buch „Eigenes Leben“ fest, wie zentral eine Biografie heute ist: „Das Entscheidende ist [...], dass die modernen Vorgaben die Selbstorganisation des Lebenslaufs und die Selbstthematisierung der Biografie erzwingen.“ Wenn der Lebenslauf die Verkettung tatsächlicher Ereignisse des Lebens einer Person darstellt, dann ist die Biografie die Erzählform dieser Ereignisse.

In der Schule der Arbeitslosen erhalten die Exkludierten ein ausgiebiges Motivations- und Bewergungstraining. Sie müssen u.a. das Fach „Biografisches Arbeiten“ belegen und fiktive Bewerbungsgespräche mit Trainern führen. Das Bewerbungsgespräch entpuppt sich als neue Kunstform, die Bewerbungsgefühle schwanken zwischen Heldenmut und Demütigung.

Eine Biografie ist nun nicht nur im soziologischen, sondern auch im ganz pragmatischen Sinne ein Konstrukt. Gefordert werden kombinatorische Phantasie, biografische Transaktionen, promiskuitive Lebensläufe, Autofiktionalität, Lebensläufe als eine Form angewandter Literatur, epische Autobahnen, fiktional konstruierte Handlungsgefüge, kombinatorische Eigenschaftsgebilde, ein Kohärenzsystem stimmiger Merkmale und Bedeutungsträger, einige (auf Regieanweisungsknappheit) reduzierte Kommentare. Es geht nicht mehr um Wahrheit, sondern lediglich um die Folgerichtigkeit biografischer Plotstrukturen und die biografische Attraktivität das eigenen Lebens.

Der Lebenslauf ist dabei nicht mehr als ein Steinbruch, der Rohstoffe für eigendynamische Biografien hergibt. Es geht nicht um Realitätssinn, sondern um Möglichkeitssinn. Dazu müssen zuerst einmal Lücken aufgedeckt werden: „Ausbildungs- und Berufslücken, […] extracurriculare Lücken, Hobby- und Freizeitlücken, Interessenlücken, Sprachlücken, Auslandslücken, Reiselücken, Computerlücken, Persönlichkeitslücken, emotionale Lücken [...]“. Und die knallharte Devise lautet: „Das Nichts eines Lebens ist jederzeit entschuldbar, jedoch nur im wirklichen Leben, nicht in einem Lebenslauf.“ Das eigene Leben wird damit zum autobiografisch optimierter Leben. Der Erfolg dieser Suchbewegung wird in der „Schule der Arbeitslosen“ mit dem „Certificate of Professional Application“ attestiert.

Mit diesem Konstrukt sollen sich dann die Menschen mit Design-Biografie von der Looser-Class abgrenzen, die aus verängstigten Menschen mit lebenslangen Kontaktschwierigkeiten und Bindungsängsten sowie negativen Kindheitserinnerungen besteht. Menschen, die latent depressiv sind und ein geringes Selbst- und Weltvertrauen an den Tag legen und – das schlimmste von allem – nur reduziert belastbar sind. Eine Biogafie, die das nicht leistet, wird so beschrieben: „Es fehlt die Spannung. Es fehlen die großen biografischen Zäsuren. Es fehlen die Aussichtspunkte, Tiefpunkte oder Wendepunkte. Und natürlich Höhepunkte. Zu wenig Menschliches. Keine wirkliche Geschichte. Zu viel Maß und Mittelmaß […]. Es fehlen die Extreme. Es fehlen die Bedeutungen. […] Wer will so etwas lesen? Geschweige denn einstellen?“

Beitrag zur Zukunft der Menschheit: So könnte Sie aussehen, die Zukunft! Null Menschenwürde, totale Verfügungsmasse, Endstation, Müll. Tun wir alles, um es zu vermeiden.

Joachim Zelter: Schule der Arbeitslosen, 2006. Klöpfer & Meyer. Tübingen. ISBN 3-937667-71-7

Sonntag, 19. April 2009

Ich nenne es Hype

Gewicht: 480 Gramm; Maße: 210 x 135 x 30 mm

Was haben Furtwangen, Berlin und New York gemeinsam? Nichts? Doch! Es handelt sich jedes Mal um Aufenthaltsorte der "Digitalen Bohème", einer neuen gesellschaftlichen Klasse. Zumindest, wenn man Holm Friebe und Sascha Lobo glaubt. 

Man könnte die Geschichte wie ein Märchen erzählen: Es war einmal ein kleine Gruppe von Menschen, die hatten nicht viel außer ihrem Grips und ihrer Kreativität. Oscar Wilde war zwar keiner von Ihnen, könnte aber der Ideengeber für das Motto der klassischen Bohème in Paris oder London gewesen sein. Als er nach Amerika einreiste, gab er am Zoll bekannt: "I have nothing to declare, but my genious". Diese genialen Menschen trafen sich in Cafés und versuchten Arbeit, Kunst und Leben zu einem Konzept zu verbinden. Leider gelang dies nur wenigen, aber wir schätzen heute ihre Bilder und Bücher. Diese Menschen und ihre alternative, unabhängige Lebensform haben die Kultur des Westens stark geprägt, obwohl fast alle nicht so lebten wie sie: Die meisten Menschen aber blieben Konformisten, immer auf der Suche nach Absicherung und guten Zinsen für ihr Sparbuch. Die Bohème aber träumte von mehr: "Es geht (...) darum, nicht nur so zu leben, wie man will, sondern so zu arbeiten, wie man leben will, und dabei keine Kompromisse einzugehen und keinen Aufschub zu dulden."

In dem inzwischen recht bekannten Buch von Friebe und Lobo wird der lange Weg von der klassischen Bohème zur digitalen Bohème nachgezeichnet. Die neue Bohème ist (wie die alte) meist in Großstädten beheimatet, die Chefredakteurin des Berliner Stadtmagazin Zitty mit dem echten (!?) Namen Mercedes Bunz hat diese Gruppe einmal "Urbane Penner" genannt. Eine Ausnahme ist sicher Furtwangen. Es sind die IT- und Webspezialisten, die vernetzt an Projekten arbeiten, deren Leben selbst ein einziges Projekt, ein ständiges Ringen um Aufmerksamkeit im Netz (Twitter, Blogs) ist und die sich mühsam aber überzeugt durch ihr festanstellungsloses Leben schlagen.

Man könnte die Geschichte aber auch anders erzählen: Es ist die postapokalytische (Grace Jones) Version einer Auferstehung aus der Krise. Seit den 1980er Jahren gehen in der Industriegesellschaft die Jobs verloren, Menschen werden aus einst sicheren und lebenslangen Arbeitsverhältnisse "frei gesetzt". Das erinnert an Jean Paul Sartres existenzphilosophischen Ansatz, so wie er in seinem Hauptwerk "Das Sein und das Nichts" auf den Punkt gebracht wird: "Der Mensch ist zur Freiheit verurteilt". Das Problem ist nur, dass die meisten mit dieser Freiheit nicht umgehen können. Trotzdem sucht die digitale Bohème nach genau dieser Freiheit. Jeremy Rifkin hat schon 1995 in seinem bekanntesten Buch "Das Ende der Arbeit" beschrieben, was mittlerweile immer deutlicher auf uns zukommt: Zunehmende Automatisierung, Rationalisierung und Digitalisierung ersetzt menschliche Arbeitskraft. Die Menschen werden "überflüssig" oder "ausgeschlossen", wie der Soziologe Heinz Bude es immer wieder betont. Rifkin sah an neue Elite am Horizont auftauchen, die "Symbolanalytiker". Diesen Begriff borgte es sich von Robert B. Reich aus, einen Politikprofessor, der auch mal Außenminister unter Bill Clinton war. 

Symbolanalytiker sind Menschen, die mit Codes (Software, Texte, Bilder) umgehen können. In Furtwangen werden hauptsächlich genau diese Symbolanalytiker ausgebildet. Diese Codes werden für die moderne Gesellschaft immer zentraler, weil es immer weniger darum geht, Produkte herzustellen, sondern Ideen zu vermarkten. Genau diese Mechanismen der Vermarktung intelligenter Softwarelösungen oder kreativer Webseiten beschreiben Friebe und Lob aus ihrer eigenen (Berliner) Praxis. Sie dröseln dazu einige Gesellschaftsdiagnosen auf und beschäftigen sich dann sehr ausführlich und erfahrungsreich mit den verschiedenen Komponenten der digitalen Ökonomie, der digitalen Kultur und des digitalen Lebens. 

Wie die alte Bohème versuchen auch sie das alles zusammen zu bringen. Und dabei Realisten zu bleiben: Die "schweifende Form der Existenzsicherung", die die Angehörigen der digitalen Bohème versinnbildlichen, ist für sie eine Art Beta-Version der immer schon prekären Lebenslagen der meisten (kreativen) Menschen. Projekthaftes Leben verspricht zwar Unabhängigkeit und Autonomie, hat aber auch Nachteile: Kontingenz und Entscheidungsdruck, Eigenverantwortung und Selbstmotivation sind nicht jedem/jeder angeboren. Das "Leben im Konjunktiv Futur" (so der Titel eines Kapitels) ist eben auch anstrengend. Aber wir haben ja die Wahl.

Beitrag zur Zukunft der Menschheit: Buch und Webseite zeigen, dass man sich auch mit viel Aufwand irren kann. Die meisten Menschen sehnen sich (damals wie heute) nicht nach Autonomie, sondern nach Orientierung.

Holm Friebe & Sascha Lobo: Wir nennen es Arbeit. Die digitale Bohème oder Intelligentes Leben jenseits der Festanstellung. 2007 (5. Auflage). Heyne: München. ISBN 978-3-453-12092-1 

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