Jede Woche stelle ich hier (ab Mitte März 09) ein Buch vor. Alle Autoren haben ein gemeinsames Thema. Sie machen sich - jeder auf seine Weise - Gedanken über die Zukunft. In diesem Blog werden die nach subjektiven Kriterien ausgewählten Monographien vorgestellt und in einen größeren Zusammenhang eingeordnet. zweitwissen will neugierig machen und zum Lesen eines kompletten Buches anregen, anstatt sich nur Informationshäppchen im Netz "anzulesen".

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Motto: "Umwege erhöhen die Ortskenntnisse"

Sonntag, 19. April 2009

Ich nenne es Hype

Gewicht: 480 Gramm; Maße: 210 x 135 x 30 mm

Was haben Furtwangen, Berlin und New York gemeinsam? Nichts? Doch! Es handelt sich jedes Mal um Aufenthaltsorte der "Digitalen Bohème", einer neuen gesellschaftlichen Klasse. Zumindest, wenn man Holm Friebe und Sascha Lobo glaubt. 

Man könnte die Geschichte wie ein Märchen erzählen: Es war einmal ein kleine Gruppe von Menschen, die hatten nicht viel außer ihrem Grips und ihrer Kreativität. Oscar Wilde war zwar keiner von Ihnen, könnte aber der Ideengeber für das Motto der klassischen Bohème in Paris oder London gewesen sein. Als er nach Amerika einreiste, gab er am Zoll bekannt: "I have nothing to declare, but my genious". Diese genialen Menschen trafen sich in Cafés und versuchten Arbeit, Kunst und Leben zu einem Konzept zu verbinden. Leider gelang dies nur wenigen, aber wir schätzen heute ihre Bilder und Bücher. Diese Menschen und ihre alternative, unabhängige Lebensform haben die Kultur des Westens stark geprägt, obwohl fast alle nicht so lebten wie sie: Die meisten Menschen aber blieben Konformisten, immer auf der Suche nach Absicherung und guten Zinsen für ihr Sparbuch. Die Bohème aber träumte von mehr: "Es geht (...) darum, nicht nur so zu leben, wie man will, sondern so zu arbeiten, wie man leben will, und dabei keine Kompromisse einzugehen und keinen Aufschub zu dulden."

In dem inzwischen recht bekannten Buch von Friebe und Lobo wird der lange Weg von der klassischen Bohème zur digitalen Bohème nachgezeichnet. Die neue Bohème ist (wie die alte) meist in Großstädten beheimatet, die Chefredakteurin des Berliner Stadtmagazin Zitty mit dem echten (!?) Namen Mercedes Bunz hat diese Gruppe einmal "Urbane Penner" genannt. Eine Ausnahme ist sicher Furtwangen. Es sind die IT- und Webspezialisten, die vernetzt an Projekten arbeiten, deren Leben selbst ein einziges Projekt, ein ständiges Ringen um Aufmerksamkeit im Netz (Twitter, Blogs) ist und die sich mühsam aber überzeugt durch ihr festanstellungsloses Leben schlagen.

Man könnte die Geschichte aber auch anders erzählen: Es ist die postapokalytische (Grace Jones) Version einer Auferstehung aus der Krise. Seit den 1980er Jahren gehen in der Industriegesellschaft die Jobs verloren, Menschen werden aus einst sicheren und lebenslangen Arbeitsverhältnisse "frei gesetzt". Das erinnert an Jean Paul Sartres existenzphilosophischen Ansatz, so wie er in seinem Hauptwerk "Das Sein und das Nichts" auf den Punkt gebracht wird: "Der Mensch ist zur Freiheit verurteilt". Das Problem ist nur, dass die meisten mit dieser Freiheit nicht umgehen können. Trotzdem sucht die digitale Bohème nach genau dieser Freiheit. Jeremy Rifkin hat schon 1995 in seinem bekanntesten Buch "Das Ende der Arbeit" beschrieben, was mittlerweile immer deutlicher auf uns zukommt: Zunehmende Automatisierung, Rationalisierung und Digitalisierung ersetzt menschliche Arbeitskraft. Die Menschen werden "überflüssig" oder "ausgeschlossen", wie der Soziologe Heinz Bude es immer wieder betont. Rifkin sah an neue Elite am Horizont auftauchen, die "Symbolanalytiker". Diesen Begriff borgte es sich von Robert B. Reich aus, einen Politikprofessor, der auch mal Außenminister unter Bill Clinton war. 

Symbolanalytiker sind Menschen, die mit Codes (Software, Texte, Bilder) umgehen können. In Furtwangen werden hauptsächlich genau diese Symbolanalytiker ausgebildet. Diese Codes werden für die moderne Gesellschaft immer zentraler, weil es immer weniger darum geht, Produkte herzustellen, sondern Ideen zu vermarkten. Genau diese Mechanismen der Vermarktung intelligenter Softwarelösungen oder kreativer Webseiten beschreiben Friebe und Lob aus ihrer eigenen (Berliner) Praxis. Sie dröseln dazu einige Gesellschaftsdiagnosen auf und beschäftigen sich dann sehr ausführlich und erfahrungsreich mit den verschiedenen Komponenten der digitalen Ökonomie, der digitalen Kultur und des digitalen Lebens. 

Wie die alte Bohème versuchen auch sie das alles zusammen zu bringen. Und dabei Realisten zu bleiben: Die "schweifende Form der Existenzsicherung", die die Angehörigen der digitalen Bohème versinnbildlichen, ist für sie eine Art Beta-Version der immer schon prekären Lebenslagen der meisten (kreativen) Menschen. Projekthaftes Leben verspricht zwar Unabhängigkeit und Autonomie, hat aber auch Nachteile: Kontingenz und Entscheidungsdruck, Eigenverantwortung und Selbstmotivation sind nicht jedem/jeder angeboren. Das "Leben im Konjunktiv Futur" (so der Titel eines Kapitels) ist eben auch anstrengend. Aber wir haben ja die Wahl.

Beitrag zur Zukunft der Menschheit: Buch und Webseite zeigen, dass man sich auch mit viel Aufwand irren kann. Die meisten Menschen sehnen sich (damals wie heute) nicht nach Autonomie, sondern nach Orientierung.

Holm Friebe & Sascha Lobo: Wir nennen es Arbeit. Die digitale Bohème oder Intelligentes Leben jenseits der Festanstellung. 2007 (5. Auflage). Heyne: München. ISBN 978-3-453-12092-1 

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