Jede Woche stelle ich hier (ab Mitte März 09) ein Buch vor. Alle Autoren haben ein gemeinsames Thema. Sie machen sich - jeder auf seine Weise - Gedanken über die Zukunft. In diesem Blog werden die nach subjektiven Kriterien ausgewählten Monographien vorgestellt und in einen größeren Zusammenhang eingeordnet. zweitwissen will neugierig machen und zum Lesen eines kompletten Buches anregen, anstatt sich nur Informationshäppchen im Netz "anzulesen".

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Motto: "Umwege erhöhen die Ortskenntnisse"

Dienstag, 17. März 2009

Existentielle Funklöcher statt Kommunikationsfallen

Gewicht: 366 Gramm, Maße: 210 x 155 mm x 20 mm

Müssen Sie immer ein Gespräch annehmen, nur weil Ihr Telefon oder Handy klingelt? Sind Sie jemand, der ständig nachschaut, ob er eine neue Mail bekommen hat oder jemand, der zwanghaft auf eine SMS antwortet. Wenn Sie wissen möchten, was selbst angebautes Biogemüse, der Ausschalter ihres Fernsehapparats und der Verzicht auf E-Mails miteinander zu tun haben, dann sollten sie weiterlesen ...


Obwohl es so scheint, als ob wir alle Opfer der allgemeinen Beschleunigung, der "Informationsbombe" (Paul Virilio) und zahlreicher Kommunikationsfallen sind, gibt es sie noch, die ganz einfachen EXIT-Möglichkeiten. Manche nennen sie schlicht Entschleunigung, so wie die Vertreter der sog. Slow-Food-Bewegung, denen es darauf ankommt, "zu wissen, was man isst". Es gibt sogar langsame Städte, die sich mit ähnlicher Zielsetzung zur Citta-Slow-Bewegung zusammengeschlossen haben und denen es darum geht, das Leben in Städten wieder lebenswerter zu machen (Furtwangen gehört - noch nicht - dazu).

Ähnliche Zielsetzungen verfolgt Miriam Meckel, die Autorin des Buches "Das Glück der Unereichbarkeit". Der Professorin für 'Corporate Communication' (Universität St. Gallen) geht es darum, zu zeigen, wie das Leben lebenswerter werden kann, wenn man weiß, wie man (richtig) kommuniziert. Um es vorweg zu sagen: Der Großteil des Buches ist für medienaffine Menschen eher langweilig - das Zielpublikum sind wohl eher Leute, die es aufregend finden, wenn sie eine Software das erste Mal selbst installieren und danach alles funktioniert. Die Autorin ist auch nicht gerade bescheiden, um nicht zusagen: eine Zicke. Ständig erwähnt sie, wie wichtig sie selbst ist, wer alles etwas von ihr will und wie oft sie im Monat nach New York jettet. Die Idee zum Buch hatte sie, weil sie einfach so viel kommunizieren muss, ach! Das ganze Buch wirkt so, als hätte der Verlag gesagt: "Ok, kommunikative Unerreichbarkeit, das ist eine gute Idee. Dummerweise fehlen jetzt noch 180 Seiten, damit daraus ein Buch wird. Schreiben Sie ein bisschen was über diese Online-Sachen. Sie wissen schon."

Und das hat sie dann auch getan. Vergessen wir einfach, was Miriam Meckel uns über "Liebeskommunikation in der Netzwelt" erklären möchte (wir haben es schon vor ihr probiert, aber richtig!). Lassen wir uns nicht einschüchtern, von Kapiteltiteln wie "Das vibrierende Ich: Nackt im Netz ohne die Grenzen des Privaten" (wir wissen, was wir tun!). Übersehen wir galant das Kapitel "Digitale Zeitdiebe und Hausbesetzter: Wie Technik unser Leben bestimmt (der Titel wirkt wie aus einer Apotheken-Zeitschrift). Empfehlenswert sind dennoch die Einleitung "Wir Simultanten: Immer erreichbar, im Standby", sowie das erste Kapitel "In der Kommunikationsfalle: Datenflut und Denkebbe".

Meckel arbeitet in diesen beiden zentralen Kapitel heraus, was man auch aus soziologischer Perspektive die Ambivalenz der modernen Existenz nennen könnte. Wir wollen dazugehören, vernetzt sein, beachtet werden usf. Aber immer mehr Menschen möchten die damit verbundene "Pflicht zur Kommunikation" nicht einlösen. Wir sind kommunikative Zierfische und gleichzeitig normative Drückeberger.

Worin besteht nun die Kommunikationsfalle? Das erste (eher soziologische) Problem dabei ist, dass technische Vernetzung noch lange keine soziale Anbindung nach sich zieht. Es ist so ganz anders, als es einmal Howard Rheingold in seinem Klassiker "Virtual Community" beschrieben hat. Er dachte es sich so: Man arbeitet vernetzt, kennt sich aber und hilft sich im RL, dort, wo es nötig sein sollte. Heute ist es so: Man hat "Follower" und "Kontakte", aber noch lange keine Freunde. 

Das zweite Problem ist eher psychologischer oder spiritueller Natur: Wer dauernd kommuniziert, am besten mit allen gleichzeitig, der hört niemandem mehr richtig zu. Was die meisten vergessen: Es gilt auch die Umkehrung der Aussage: Niemand hört uns mehr (richtig) zu. Schon lange beobachte ich, dass die wenigsten Menschen noch dazu in der Lage sind, sich mehr als drei Sätze zu konzentrieren und aufmerksam zuzuhören. Von der Unhöflichkeit, gleichzeitig ein Telefonat auf dem Festnetz und eines auf dem Mobiltelefon zu führen, ganz zu schweigen...

Meckel will die digitalen Kommunikationsmedien deshalb aber nicht gleich abschaffen. Aber sie sucht nach Tipps, in einer "richtigen" und "sozial verträglichen" Art und Weise mit ihnen umzugehen. In der Fachwelt nennt man das Kommunikationsökologie. Dazu gehören bewusste Kommunikationspausen, die autonom das eigene Leben strukturieren und uns Zeit für Wichtiges geben: "Wir müssen technisch ausschalten, um gedanklich abschalten zu können". Abschalten vom Stress, vom Rat-Race, von den Intrigen des Alltags. Abschalten von den vielen To-Do's, den Checklisten und Mindmaps die unser Hirn martern. 

Ich will die vielen Tipps nicht vorwegnehmen, die Meckel in ihrem Buch entwickelt, aber auf ihre Philosophie hinweisen: "Jeder braucht heute von Zeit zu Zeit sein individuelles existentielles Funkloch. Das sorgt nicht nur für eine Steigerung der Lebensqualität, es ist überlebenswichtig".

Der "homo connectus" ist nicht verloren. Er kann aus der Datenfalle entkommen. Dafür gibt Meckel einige (erwartbare) Hinweise und praktische Tipps. Woran es diesem Buch mangelt, ist eine Erklärung darüber, wie man solche neuen Gewohnheiten (der kommunikativen Unerreichbarkeit) für sich selbst entwickelt (denn der Mensch ist ein Gewohnheitstier - neue Routinen aufzubauen ist die Hölle) und wie man als Gesellschaft zu neuen Kommunikationspflichten und -erwartungen gelangt. Denn es nützt wenig, wenn man als Einzelperson den Kommunikationsstöpsel zieht und dafür - früher oder später - von anderen bestraft wird, weil man der herrschenden Norm nicht entspricht. Der neuen Gewohnheit zu Unereichbarkeit müsste also ein neues Recht auf Unerreichbarkeit gegenüber stehen. Darüber, wie dieses Recht herstellbar ist, sagt die Autorin leider nichts.

Das Buch ist letztlich weniger eine kommunikationssoziologische Studie, sondern eines der weit verbreiteten Lebensratgeberbücher, die ich persönlich so sehr "liebe". Nicht weil ich sie bräuchte oder weil ich deren Inhalt gut finde. Sondern einfach deshalb, weil diese "Tue XYZ und du wirst sooo glücklich-Bücher" ein wunderbarer Ausdruck unserer kulturellen Ratlosigkeit sind. Immer mehr Menschen suchen Antworten auf Fragen, die früher jeder für sich selbst beantworten konnte. Beispiel:  Vor ein paar Tagen sah ich ein Kochbuch für Babybrei. Babybrei mit allerlei Geschmacksvarianten. Ich rief meine Mutter an, und fragte, ob es zu der Zeit, als ich ein Baby war, Kochbücher für Babybrei gab. Natürlich gab es keine. Meine  Mutter wusste einfach, wie man Babybrei zubereitete. Oder sie lebte in einem kommunikativen Umfeld, das über diese Informationen verfügte und diese weitergab (wahrscheinlich waren meine Großmütter dieses kommunikative Umfeld). 

Früher wusste man, das man ab und zu seine Ruhe braucht. Und man wusste, wie man es anstellt, in Ruhe gelassen zu werden. Heute ist es möglich, über ein und denselben Sachverhalt einen Bestseller zu schreiben. 

Beitrag zur Zukunft der Menschheit: Das Buch erhöht die Chance, dass wir nicht doch alle verrückt werden und im Informationsmüll versinken.

Miriam Meckel: Das Glück der Unerreichbarkeit. Wege aus der Kommunikationsfalle. 2007 (3. Auflage). Murmann Verlag, Hamburg, ISBN 978-3-86774-002-9

1 Kommentar:

  1. Beim Lesen musste ich gleich an den Spiegel Artikle über den digitalen Selbstmord denken. Partizipation in sozialen Netzwerken à la facebook. Der Zwang der Clique. http://www.spiegel.de/unispiegel/wunderbar/0,1518,532070,00.html

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